Snapshot
der an Händen und Füßen mit Draht gefesselt war, aber ansonsten im Vergleich zu seinem Nachbarn beinahe unversehrt wirkte. Bis auf die Tatsache, dass er alabasterweiß war, da in seinen Handgelenken tiefe Risse klafften, aus denen noch der letzte Tropfen Blut geflossen war. Der Blasseste aller Blautöne hatte sich auf seine Lippen gelegt, als hätte man ihn etwas zu lange im Schnee gelassen, seine Augen waren in den Höhlen zurückgerollt. Und zu seinen Füßen: ein Swimmingpool aus reinstem Purpur, Lebenssaft, der niemandem mehr Leben spendete. Ein Rinnsal führte zu den Füßen des dritten Opfers, was nun wirklich nicht nötig gewesen wäre. Blut, davon hatte der Dritte mehr als genug. Man hatte ihn aufgeschlitzt, ein tiefer vertikaler Spalt in der Brust, aus dem ein leuchtend roter Bach strömte. Er hatte den Kopf zurückgeworfen, als hätte er zuletzt an die Decke oder noch weiter nach hinten gestarrt, vielleicht seine letzte Tat überhaupt, ein Schrei, ein Aufbäumen gegen das, was man hier mit ihm machte. Auch seine Fingerspitzen bluteten, so verzweifelt hatte er sich am Stuhl, am Leben festgekrallt. Er war Anfang zwanzig, ein dürrer Kerl mit Schlägervisage und struppigem, schmutzig blondem Haar. Als Winter den Schnitt in seiner Brust sah, wollte er schon Baxter holen, um ihm eine Frage zu stellen, die er nicht stellen durfte: War hier dasselbe Messer am Werk gewesen wie bei Sammy Ross? Aber er musste den Mund halten, denn er hätte den anderen schon längst von der Verbindung zwischen Ross und Strathie erzählen müssen. Bevor auf McConachie und Addison geschossen wurde, bevor Forrest und die vier auf den Stühlen ermordet wurden, bevor alles zu spät war…
Der Vierte hatte eine Kapuze über dem Gesicht. Sein Kopf war in einem unnatürlichen Winkel zur Seite gesackt, und auch mit seinen Beinen schien etwas nicht zu stimmen. Von den Knien abwärts waren sie seltsam abgespreizt, und einzelne Knochen ragten in Richtungen, in die sie nicht ragen sollten. Er trug eine dreckige Jeans und ein dreckiges Sweatshirt, als hätte er sich kurz vor seinem Tod auf dem Boden gewälzt. Zum Beispiel als er einer Behandlung mit einem Baseballschläger unterzogen worden war.
» Der zuerst«, befahl Alex Shirley. » Und beeilen Sie sich gefälligst, Winter. Die Kapuze muss runter.«
Winter spurte. Er war froh, dass er etwas tun konnte, statt nur rumzustehen und die Toten anzustarren. Im Schnelldurchlauf umkreiste er das Baseballschlägeropfer und knipste seine Fotos. Im Hintergrund einiger Bilder standen verängstigte Cops mit offenem Mund herum. » Okay, das reicht jetzt«, bellte Shirley. » Weg da.«
Winter war sowieso fertig, zumal er das Gesicht des Toten genauso dringend sehen wollte wie alle anderen. Shirley ging entschlossen auf den Typen zu, zog die Kapuze runter und ließ sie in die Plastiktüte fallen, die Baxter ihm hinhielt.
Die rechte Seite des Gesichts von Nummer vier war eingedellt, das rechte Auge war aus der Höhle gequollen, Schädel und Kiefer waren gleichermaßen zerschlagen. Plötzlich sah Tony Addisons blutigen Kopf vor sich, ein Schreckgespenst, das er sofort wieder verscheuchen musste. Er musste sich konzentrieren, sonst saß er knietief in der Scheiße. Es fehlte sowieso nicht viel, und er hätte komplett den Verstand verloren.
Winters Blick ruhte auf dem linken Auge des Toten. Ihm fiel auf, dass es sich von der demolierten rechten Hälfte des Schädels abgewandt hatte und nach links schaute, als würde auch von dort Gefahr drohen. Oder wollte es einfach nicht sehen, was auf der rechten Seite vor sich ging? Eine Sekunde lang wünschte Winter, er wäre dort, wohin Nummer vier starrte, an einem sicheren Ort weit weg von hier. Aus den Augen, aus dem Sinn. Aber im nächsten Moment war er zurück im Hier und Jetzt.
Das halbe Gesicht, das der Typ noch hatte, reichte für eine Identifizierung.
» Harvey Houston?«, fragte Shirley und sah sich nach seinen Untergebenen um.
» Ja, Sir«, sagte Sandy Murray, der als Erster die Sprache wiedergefunden hatte. » Wir sind uns in den letzten Jahren ein paarmal über den Weg gelaufen.«
Dafür gab es ein leichtes Nicken vom Boss. So wütend hatte Winter Temple noch nie gesehen. » Und wie heißt der Rest? Na los, machen Sie Ihre beschissenen Fotos, Winter. Und ihr anderen– ich will Namen. Jetzt.«
Winter nahm Houstons geborstenen Schädel ins Visier und drückte den Auslöser, während er hörte, wie Murray, Boyle, Williamson und Monteith die anderen
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