Snapshot
Straße, die es zu entdecken galt. Welcher Teenager konnte da schon widerstehen?
Als der Name über Mrs. McKendricks Lippen gekommen war, war Winter sofort eingefallen, dass der erste Mord unmittelbar bei der Central Station verübt worden war. Cairns Caldwell war ein paar Hundert Meter neben dem Rennie Mackintosh Hotel erschossen worden, unmittelbar über den Gleisen des Bahnhofs, über dem alten Dorf. Und der Schütze war danach wie vom Erdboden verschwunden, als hätte ihn die Stadt verschluckt.
Winter war sich so gut wie sicher: Dort, im alten Grahamston, würde er McKendrick finden. Jetzt war nur noch die Frage, ob er ihn finden wollte.
Er musste sich nichts vormachen. Ja, er hatte Angst. Er war Fotograf, Beobachter, Augenzeuge. Also was zur Hölle wollte er da unten? Wären da nicht die Gesichter von Addison und Rachel gewesen, die vor seinem inneren Auge aufblitzten, er hätte es nicht getan. Aber wenn seine Theorie stimmte, hatte McKendrick seinen besten Kumpel angeschossen, der nun im Krankenhaus lag und an einer Maschine hing, die ihn mit Ach und Krach am Leben hielt. Er hatte Sammy Ross gefoltert, um an Namen und Adressen zu kommen, an alles, was er brauchte, um die Spitze, die mittlere Führungsebene und den Bodensatz des Glasgower Drogenhandels auszulöschen. Jetzt hatte er Handys, in denen Todeslisten gespeichert waren, und auf einer dieser Listen fand sich vielleicht auch Rachels Name. Deshalb musste Winter es durchziehen.
Hätte man ihn gefragt, was er machen wollte, wenn er Grahamston oder zumindest McKendricks Versteck im Labyrinth unter dem Bahnhof gefunden hätte, er hätte keine klare Antwort geben können. Er wusste nur, dass er es versuchen musste. Vielleicht könnte er genug Beweise auftreiben, um Alex Shirley von seiner Theorie zu überzeugen, Ryan zu fassen, Addisons Namen reinzuwaschen und Rachel zu retten. Nein, das war Schwachsinn. Er hatte schlicht keine Ahnung.
Über die Jahre hatte er einige Gerüchte über verschiedene Zugänge zum verbotenen Reich unter der Central Station gehört. Onkel Dannys Geschichte hatte ihn so sehr fasziniert, dass er jedes Mal aufhorchte, wenn ein Beamter, Ingenieur, Elektriker oder Klempner, den es aus beruflichen Gründen dort hinunter verschlagen hatte, nach einem Bier zu viel ins Plaudern geriet. Unter den vielen Läden in der Umgebung der Argyle Street gab es weitläufige Keller, die teilweise miteinander in Verbindung standen. Nur waren diese Durchgänge heutzutage meist zugemauert.
Immer mal wieder hörte man von jemandem, der dort unten gewesen war und die intakte Ladenzeile der Alston Street gesehen haben wollte. Einige berichteten von einem Metzger, andere von einem Schnapshändler. Einer behauptete, sein Onkel, ein Ingenieur bei der Telefongesellschaft, hätte öfter dort unten zu tun, und der Zugang befinde sich auf der Treppe zum Bahnsteig 3, unter dem es einen Lift gebe, der einen tief runter in den Untergrund des Bahnhofs bringe. Dort würde sich dann ein riesiges, stockdunkles Gebiet auftun, mit Tunneln in alle Richtungen, und am Ende eines dieser Tunnel liege die Alston Street, die angeblich vom Rand des Fundaments der Central Station bis zum Kaufhaus Debenhams führte. Aber es war immer dasselbe: der Kumpel eines Kumpels. Winter hatte noch niemanden kennengelernt, der selbst dort unten gewesen sein und die Alston Street mit eigenen Augen erblickt haben wollte. Und das hatte wahrscheinlich seine Gründe.
Aber dass es da unten etwas zu entdecken gab, daran zweifelte er keine Sekunde. Er hatte sogar schon mal einen Abstecher in das riesige labyrinthische Areal unter den Arches unternommen, und ein Freund, der in der Argyle Arcade arbeitete, hatte ihm von einem Tunnel erzählt, der sich über die gesamte Länge des Einkaufszentrums erstreckte, unter den ganzen Juwelierläden hindurch. Und im alten What Every’s konnte man in den Keller gehen, unter der Argyle Street durch und auf der anderen Seite wieder rauf. Überhaupt waren da unten mehr Tunnel als in Gesprengte Ketten und Colditz – Flucht in die Freiheit zusammen. Egal ob sich unter dem Bahnhof nun eine alte Straße verbarg oder nicht, auf jeden Fall warteten dort unten mehr als genug potenzielle Verstecke für einen gesuchten Serienkiller. Oder für einen Wahnsinnigen.
Am glaubwürdigsten erschien Winter, was sein Freund Jamie Rowan berichtet hatte, vielleicht weil Jamie keinen Pfifferling auf die ganzen Gerüchte über die Alston Street gab. Er meinte, hinter dem McDonald’s
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