Snapshot
Winter war sich so gut wie sicher, dass sie eben noch geheult hatte, was sein Gewissen nicht gerade beruhigte. » Ryan und ich haben früher zusammen Fußball gespielt«, log er. Fußball spielte doch jeder, oder?
» Ach ja… Ryan spielt schon seit Jahren nicht mehr, seit er zur Navy gegangen ist. Also nicht mehr so richtig… Aber früher hatte er gar nichts anderes im Kopf.«
Mrs. McKendrick war vielleicht Ende vierzig, höchstens Anfang fünfzig, wirkte aber eher wie sechzig. In ihr zerzaustes brünettes Haar hatte sich ein grauer Schimmer eingeschlichen; ungesundes Nikotingelb verfärbte ihre Fingerspitzen, die ungepflegten Fingernägel waren abgekaut. So sieht man aus, wenn man ein Kind verloren hat, dachte Winter, und wenn man einen Monat lang kein Auge zugetan hat. Vielleicht würde er ihr bald noch mehr schlaflose Nächte bereiten, aber das ließ sich nicht ändern.
Auch wenn sie sich noch so sehr bemühte, ihren Widerwillen zu verbergen, Mrs. McKendrick freute sich offensichtlich nicht über den Gast. Wahrscheinlich hatte sie gedacht, der Ansturm der wohlmeinenden Besucher wäre überstanden– und jetzt kreuzte noch einer auf, ein nerviger Nachzügler, mit dem sie sich der Höflichkeit halber eine Weile ins Wohnzimmer setzen musste. Als er den Tee ablehnte, versuchte sie, nicht allzu erleichtert zu lächeln.
Winter betrat das ordentliche, saubere Wohnzimmer. Über den Raum verteilt standen vier oder fünf Vasen mit ausgeblichenen Blumen, auf dem Kaminsims drängten sich die Beileidskarten. Mittendrin entdeckte er ein Foto im Silberrahmen: Mrs. McKendrick zwischen zwei jungen Männern, die sie deutlich überragten, im Vordergrund ein noch jüngeres Mädchen. Bei dem jüngeren der beiden Männer handelte es sich offensichtlich um Kieran: etwas längeres helles Haar und ein breites, verschmitztes, glückliches Grinsen, als wäre es ihm ein bisschen peinlich, Arm in Arm mit seiner Mum zu posieren. Ryan war größer und kräftiger als er, mit kurz geschorenem dunkelblondem Haar und selbstbewusster Ausstrahlung. Keine Frage, er war der Mann im Haus. Ryan wirkte entschlossen, aus seinen Augen sprach der stählerne Blick des geborenen Beschützers. Mit dem würde man sich nicht so ohne Weiteres anlegen. Ganz vorne stand Suzanne und schaute mit unverhohlener Bewunderung zu ihrem großen Bruder auf.
» Das Foto haben wir an meinem Geburtstag gemacht«, sagte Mrs. McKendrick, die hinter Winter aufgetaucht war. » Ryan hatte Landurlaub, und Kieran ist dann auf die Uni gegangen, und deshalb dachten wir uns, das ist doch eine gute Gelegenheit für ein Foto zu viert. Und dann war es das letzte Foto.«
» Tut mir leid, dass ich nicht zur Beerdigung kommen konnte«, meinte Winter. » Ich war verreist.«
Ein geistesabwesendes Nicken, als wäre ihr das ziemlich egal. Mit zittrigen Händen zündete sie sich eine Zigarette an.
» Ich habe Ryan nicht erreicht«, fuhr er fort. » Ist er wieder auf See?«
» Ja, ja, Ryan ist wieder auf See.« Die Antwort kam viel zu schnell. So schnell, dass Winter ihr keine Sekunde glaubte. Als wollte sie nicht weiter darüber reden. Entweder wusste sie, dass sie log, oder sie hatte zumindest ihre eigenen Zweifel. Aber er würde nicht weiter nachbohren.
» Wirklich schade, dass ich ihn verpasst habe. Also musste er gleich nach der Beerdigung wieder los?«
» Nein, sie haben ihm noch drei Tage gegeben, wahrscheinlich damit er sich um mich und Suzanne kümmern kann. Aber dann musste er wieder hin.«
» Und wie ist er so klargekommen?«
Die letzten paar Sekunden lang hatte Mrs. McKendrick einen losen Faden im Teppich betrachtet, aber jetzt blickte sie auf und zog nachdenklich an ihrer Zigarette. » Er ist nicht mehr derselbe. Es ist schlimm. Er gibt sich die Schuld an allem. Er sagt, er hätte für Kieran da sein müssen, als er… aber wie hätte er das machen sollen? Er hat doch seinen Beruf. Aber er ist nun mal… er war…«
» Kierans großer Bruder?«
» Ja. Ich hab ihm immer wieder gesagt, dass es nicht seine Schuld ist, aber er wollte nicht auf mich hören. Er hat es einfach nicht verkraftet. Er wollte ganz genau wissen, wie es passiert ist und warum sich Kierans Freunde nicht um ihn gekümmert haben. Er ist gar nicht mehr zur Ruhe gekommen.«
» Hat er mit Kierans Freunden gesprochen?«
» Ja, schon. Aber danach war er noch wütender, weil sie ihm kaum was sagen wollten. Wahrscheinlich weil sie sich vor der Polizei fürchten. Er war wie ein Tiger im Käfig, er hat immer
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