Snapshot
Kontrolle bringen.
Stell dich nicht so an, sagte er sich. Reiß dich zusammen.
Was war hinter der Tür? Eigentlich wollte er es gar nicht wissen, aber er musste rausfinden, was die Ratten so sehr fasziniert hatte, dass sie sich dort versammelt hatten. Wahrscheinlich irgendwas zu fressen. Vielleicht irgendwas, das zusammen mit der Cola hier unten angespült worden war. Was soll’s, dachte er und verfluchte sich dafür, du wirst sowieso nachschauen müssen.
In seinem Kopf machte sich ein albernes Bild aus dem Film Ben breit: Der junge Held kommt in einen kleinen Raum und sieht, dass es dort nur so von Ratten wimmelt. Die Biester haben ihn eingekreist, sie hocken auf jedem Regalbrett. Die Szene hatte Tony noch Jahre später verfolgt. Und jetzt würde er gleich da reingehen und möglicherweise seinen persönlichen Albtraum betreten.
Winter atmete tief durch und streckte die Hand aus, zerrte an der Klinke und wich schnell zurück, bis er mit dem Rücken zur Wand stand. Vielleicht würde ihm gleich der nächste Trupp Ratten entgegenstürmen? Aber nichts tat sich, es war vollkommen ruhig. Langsam schob er sich um die offene Tür herum, bis er freie Sicht auf den Raum hatte– es war eine größere Abstellkammer. Weit und breit keine Ratten, noch mal Glück gehabt. Aber die Kammer war alles andere als leer.
Im dämmrigen Licht konnte er eine ausgebeulte alte Wolldecke hinten in der Ecke und einen Pappkarton erkennen, in dem verschiedene abgepackte Lebensmittel lagen. Auf einem Regalbrett entdeckte er keine Ratten, sondern ein Notizbuch und einen Haufen Fotografien. Auf dem Boden standen vier quadratische Schachteln, etwa dreißig mal dreißig Zentimeter groß, mit dem Aufdruck Naval Issue.
Sein flacher Atem, sein pochendes Herz und die lähmende Angst, die seinen Kopf zunehmend ausfüllte, hatten ihn fest im Griff. Trotzdem funktionierte sein Hirn noch einigermaßen, und deshalb kapierte er, dass er hier richtig war. Und gleichzeitig falsch, absolut falsch. Zuerst überlastete der Anblick der Kammer seine Wahrnehmung, doch als seine übrigen Sinne den Betrieb allmählich wieder aufnahmen, registrierte er den Gestank. Einen Gestank, den er nur zu gut kannte, aber hier war es schlimmer als sonst. Deutlich schlimmer.
Winter wollte fliehen, aber er konnte nicht, seine Füße hatten das Rennen verlernt. Außerdem wäre er wahrscheinlich nur McKendrick in die Arme gelaufen, der vielleicht schon auf dem Rückweg in seinen Unterschlupf war. Nein, er konnte noch nicht hier weg, er hatte noch etwas zu erledigen. Eine Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass er es einfach tun sollte, dass er den Tatsachen ins Auge sehen und die Sache durchziehen sollte. Er beugte sich vor, griff mit spitzen, ängstlichen Fingern nach einer Ecke der Decke und zog sie langsam zurück. Bis ihm klar wurde, dass er es bloß noch schlimmer machte, indem er es hinauszögerte.
Er musste schlucken. Schließlich nahm er die Decke fest in die Hand und riss sie in einem Rutsch zurück. Er versuchte, es möglichst schnell über die Bühne zu bringen, und trotzdem enthüllte es sich Zentimeter für Zentimeter: ein Fuß, ein Bein, Finger, Blut, Brust, Kopf, Augen, Blut, Mund, Blut, Haare. Ein vollständiger und doch unvollständiger Körper. Winter stolperte zurück und krachte in das Regalbrett, sein Kopf schlug gegen die Wand. Der Schock jagte durch seinen Körper und raubte ihm den Atem. Jetzt wusste er, was die Ratten hier unten gewollt hatten.
Seine Hände pressten sich an die Schläfen und fixierten seinen Kopf wie im Schraubstock. Er wollte schreien, aber er durfte nicht. Hektische, zitternde Atemzüge, wie das Keuchen eines alten Mannes oder eines Geistesgestörten. Er kannte den Tod, er war ihm oft begegnet, aber so was, so was hatte er noch nie gesehen. Normalerweise konnte er sich darauf vorbereiten, wie man sich eben auf die Arbeit vorbereitet, aber das hier, das war ihm neu.
Vielleicht lag es an der Schweinerei, die die Ratten angerichtet hatten. Das rechte Auge hatten sie weggefressen. Wo normalerweise zartes Gewebe war, klaffte ein gähnendes Loch. Die blassen Lippen und Wangen waren nur zum Teil verspeist worden, weil sie bei ihrem Festmahl gestört worden waren. Die Fingerspitzen hatten sie zerkaut, den weichen Bauch angenagt. So viele Leckereien für so viele hungrige Mäuler.
Aber es lag nicht nur daran. Etwas anderes war viel schlimmer: Als Winter wieder zu Atem kam, als sein Herz wieder hochfuhr, musterte er die Leiche genauer– und
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