Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Snapshot

Snapshot

Titel: Snapshot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Robertson
Vom Netzwerk:
plötzlich wusste er mit absoluter Sicherheit, wen er da vor sich hatte.

40
    Das Gesicht des Toten– oder was noch davon übrig war– hatte wenig Ähnlichkeit mit dem attraktiven, selbstbewussten jungen Mann auf dem Kaminsims seiner Mutter. Der Stolz, der aus seinem Blick gesprochen hatte, war aus dem einen in seinem Schädel verbliebenen Auge verschwunden. Das kurz geschorene Haar glänzte fettig und blutverschmiert, das kantige, entschlossene Kinn hing schlaff herab, übersät von den Abdrücken scharfer Rattenzähne. Trotzdem zweifelte Winter keine Sekunde.
    Vor ihm lag Ryan McKendrick. Der Rächer seines Bruders. Das große Kind, das nach Grahamston weggelaufen war. Ryan McKendrick, schmutzig und tot und halb verspeist. Winter schwirrte der Kopf. Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit.
    Vor allem hatte er viel zu geradlinig, viel zu einfach gedacht. McKendrick wollte Gleiches mit Gleichem vergelten. Wegen seines toten Bruders war er zur menschlichen Abrissbirne mutiert und hatte den Abschaum plattgemacht, der seine tödliche Ware an Kieran verfüttert hatte. Er gehörte zum Special Boat Service, er hatte das nötige Training genossen, er hatte ein Motiv und Zugang zu entsprechender Ausrüstung. Er hatte Sammy Ross gefoltert, um alles aus ihm herauszuholen, was es zu holen gab, und ihn dann getötet. Er hatte Dealer, Gangster, Bosse erschossen, und sein Lager hatte er in diesen Katakomben aufgeschlagen.
    McKendrick war’s. Winter war sich so sicher gewesen. McKendrick war der dunkle Engel, der große Volksheld, der Killer. Es war so einfach, vielleicht zu einfach, aber vor ihm war nun mal keiner daraufgekommen.
    Damit gab es nur ein kleines Problem: die Leiche. Winter war kein Forensiker, aber er hatte sich so oft an Baxter oder Cat drangehängt, dass er ein bisschen mehr Ahnung hatte als der durchschnittliche CSI -Gucker. Mit Totenstarre und Totenflecken kannte er sich aus. Und deshalb war er in der Lage, einen ungefähren Todeszeitpunkt auszurechnen, mit dem man sich vor Gericht zumindest nicht vollständig lächerlich machen würde.
    Kopf und Nacken hatten sich grünlich-blau verfärbt, die Gase unter der Haut warfen bereits größere Blasen, die Leiche hatte sich schon ein wenig aufgebläht. Die Totenstarre war gekommen und gegangen, Flüssigkeiten sickerten aus allen verfügbaren Körperöffnungen, und es stank. Es stank zur Hölle.
    McKendrick war nicht in den letzten paar Stunden gestorben, auch nicht in den letzten vierundzwanzig. Winters Einschätzung zufolge, und das war mehr als eine Schätzung, war er seit über zwei Tagen tot, eher seit drei Tagen. Drei Tage. Das war vor dem Mordanschlag auf Addison, vor den Morden an Forrest, McConachie und Johnstone und bevor vier Typen an Stühle gefesselt und zu Tode gefoltert worden waren.
    Winter hatte gedacht, er wüsste alles, aber offenbar wusste er so gut wie nichts. Der Typ da hatte nicht auf Addison geschossen. Aber irgendwer hatte den Abzug gedrückt, und irgendwer hatte auch McKendrick getötet. Aber was machte der Junge hier unten, wenn er nicht der dunkle Engel war?
    Mit einem tiefen Einatmen gab Winter sich einen Ruck und hob McKendricks Shirt an. Dunkle, rötlich-violette Flecken zogen sich über seinen Rücken. Also war die Leiche nach dem Tod bewegt worden. Diese dunklen Flecken, das waren Totenflecken– wenn das Blut nicht mehr durch den Körper gepumpt wurde, sorgte die Schwerkraft dafür, dass die schweren roten Blutkörperchen in den Gefäßen nach unten sanken. Wäre McKendrick in dieser Stellung gestorben, hätten sich die Totenflecken mehr auf der Seite gebildet.
    Aber besonders weit hatte man ihn sicher nicht bewegt, dafür war er schlicht zu schwer. Höchstens zu zweit hätte man ihn eine größere Strecke schleppen können, und selbst dann war die Frage, wie man ihn die engen Treppen rauf- und runtergebracht hatte. Nein, vermutlich war er hier unten ermordet worden, vielleicht draußen im Hauptgang, und nach ein paar Stunden hatte man ihn dann in die Abstellkammer verfrachtet.
    War er der dunkle Engel oder war er vom dunklen Engel getötet worden? War er der Bösewicht oder der Held? Oder beides?
    Als Winters Hand zur Gesäßtasche wanderte, in der seine kleine Digitalkamera steckte, hatte er fast schon ein schlechtes Gewissen. Warum eigentlich? Vielleicht weil er wusste, dass das hier ein anderer, ein wahrhaftigerer Tod war. Ein erschreckender Tod.
    Eine Zwölf-Megapixel-Kamera mit einem ordentlichen Blitz, die dennoch

Weitere Kostenlose Bücher