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Snapshot

Snapshot

Titel: Snapshot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Robertson
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keine Eingeweide.
    Als sein Lieblingsbild hätte Winter es nicht bezeichnet. Es war nicht gerade spektakulär. Trotzdem war es das wahrscheinlich wichtigste Foto– es war der Urahn, der Katalysator, der Grund für alles andere.
    Auf dem zweiten Metinides-Abzug an seiner Wand war eine Frau zu erkennen, die vom höchsten Baum im Chapultec Park hing. Ein gespenstisches, überirdisches und ziemlich surreales Bild, bei dem man zweimal hinschauen musste. Der Baum war nicht zu übersehen, aber erst beim zweiten Blick fiel der Groschen und man dachte sich: Mein Gott. Und wenn man es begriff, fraß es einen von innen her auf.
    Metinides hatte ein Geheimnis: Er wusste, dass sich die Leute durch Film und Fernsehen so sehr an den Tod gewöhnt hatten, dass sich der echte Tod häufig eher unwirklich anfühlte. Deshalb packte er den Tod mitten in seine Fotografien und schlich sich auf diese Weise in den Kopf des Betrachters ein, der unangenehm berührt, beunruhigt, verunsichert zurückblieb. Winter empfand den Tod schon lange als unwirklich. Er wusste, dass ihm das Werk des Mexikaners deshalb so viel sagte.
    Wie sich herausgestellt hatte, war die Frau in den Chapultec Park gegangen, hatte sich nach dem höchsten Baum erkundigt, einen Strick aus der Handtasche gezogen und sich aufgehängt. Als sie die Tote später auf den Boden gelegt und die Handtasche durchsucht hatten, hatten sie ein Foto eines kleinen Mädchens und ein kurzes Schreiben mit der Erklärung für ihre Tat gefunden: Vor sechs Jahren war ihr Mann mit ihrer Tochter abgehauen. Heute hatte das Mädchen Geburtstag, und sie hatte den Schmerz einfach nicht mehr ertragen. Eine kleine, traurige Geschichte in einer großen Stadt voller kleiner, trauriger Geschichten. Damit kannte Winter sich aus.
    Er liebte Metinides’ Arbeit, er liebte die Macht der Fotografie. Ein Bild sagte mehr als tausend Worte, Fotografien dokumentierten Geschichte, entlarvten Lügen, zeigten das Leben, wie es wirklich war, legten Zeugnis ab über die Realität, fingen die Scheiße ein und die Menschen, die die Scheiße bauten. Doch eine Fotografie konnte noch mehr: Sie konnte verborgene Wahrheiten zutage fördern.
    Winter hätte sich nicht angemaßt, auf Augenhöhe mit Metinides zu stehen, doch er war Zeuge seiner eigenen Ecke der Welt. Aber dabei hatte er sich an Regeln zu halten, die im Großen und Ganzen auf eine alte Weisheit hinausliefen: Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Sein Job war es, zu beobachten, zu dokumentieren. Aber manchmal, ob man nun bewusst danach suchte oder nicht, manchmal, wenn man sich bückte, um die Gosse abzulichten, schlich sich die Realität von hinten an und biss einem in den Arsch. Seit er Stevie Strathie geknipst hatte, hatte ihm etwas keine Ruhe gelassen, und jetzt konnte er der Sache endlich nachgehen.
    Er hatte einen DIN -A5-Abzug von Strathie ausgedruckt, der in seinem eigenen Lebenssaft lag. Unwillkürlich musste er lächeln, als er sah, wie gekonnt er das Bild aufgehellt hatte– das blutleere Gesicht ergab einen schönen Kontrast zu der Sangriapfütze, in der sich ein heilloser Heiligenschein spiegelte. Panische Augen, gefroren im Augenblick des Übertritts in die andere Welt, ein Blick in Vergangenheit und Zukunft, ins Nichts. Blutleere und Blut, voll und leer, Leben und Tod. Der Wichser hatte sich eine goldene Nase verdient, indem er den Tod unter die Leute gebracht hatte. Jetzt war er dem Tod höchstpersönlich begegnet.
    Rechts vom Brustbein befand sich ein Abdruck, vielleicht zwei Zentimeter breit, leicht geschwungen, als wollte er sich zu einem Kreis fortsetzen, doch in Stevies Haut hatte sich nur ein Halbmond eingestanzt. In diesem Halbmond waren andere auffällige Abdrücke zu erkennen, die eine Art Muster ergaben. Erst jetzt begrif f W inter, dass er es sofort geahnt hatte, wenn auch nur unterbewusst. Nein, er war sich sofort sicher gewesen.
    Er platzierte den Abzug neben einem Foto von Rory McCabe, dem Teenager, dem man einen Baseballschläger übers Knie gezogen hatte. Neben dem Foto, das sich keinen Platz an seiner Galeriewand verdient hatte, weshalb es nun auf dem Schreibtisch auf der anderen Seite des Zimmers lag.
    Da war er, auf McCabes Brust, sichtbar gemacht durch den Infrarotblick seiner IS Pro: ein kreisförmiger Abdruck, so groß wie ein Fünf-Pence-Stück. Die kleineren Abdrücke, die sich auch in diesem Kreis befanden, waren Winter zuvor nicht aufgefallen– vor allem eine dunklere, horizontale Kerbe, die wahrscheinlich genauso gut

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