Snapshot
Antwort, die er finden musste. Dabei war er sich nicht mal sicher, wie die Frage lautete.
Eine Wand voller Tod und Leiden. Zwanzig sorgfältig angeordnete Fotografien, fünf Reihen à vier Bilder in gleichmäßigen Abständen. Die Crème de la Crème seiner Sammlung, achtzehn eigene Fotos, zwei von Metinides, jeweils auf weißem Karton in einem Rahmen aus schwarzem Eschenholz. Überwiegend Schwarz-Weiß-Aufnahmen, aber auch ein paar farbige. Wobei sich die Farbe meist auf unterschiedliche Rottöne beschränkte.
Exponat Nummer 1 war seine Erste gewesen: Avril Duncanson in ihrem gläsernen Totenhemd in der Nähe von M ui rhead. Doch erst der fassungslose Blick des Zeugen, eines Herrn im mittleren Alter, der wie gebannt auf die Leiche starrte, verlieh dem Bild das gewisse Etwas. So etwas hatte der Typ offensichtlich noch nie gesehen, und er betete zu seinem Gott, dass es bei dem einen Mal bleiben würde. Dieser Blick und dazu Avrils beinahe makelloses Gesicht, ihre zusammengekniffenen Augen, als hätte sie auf das Beste gehofft und das Schlimmste bekommen.
Dieses Foto war seine eigene Version von Metinides’ berühmtester Aufnahme, der Fotografie der toten Adela Legaretta Rivas. Eine schlechte Fotokopie davon hatte er vergrößert und neben sein Foto gehängt, das selbst nichts als eine Kopie war. Das Leben imitierte die Kunst, die ihrerseits das Leben imitiert hatte.
Edgar Allan Poe hatte mal geschrieben, es gebe nichts Schöneres als den Tod einer schönen Frau. Metinides hatte den Beweis geliefert.
Adela war Schauspielerin. Sie hatte die Avenida Chapultepec überquert, als sie von einem weißen Datsun erfasst wurde, der seinerseits mit einem anderen Wagen kollidiert war. Metinides hatte sie unmittelbar auf der Schwelle zwischen Leben und Tod abgelichtet, eingeklemmt zwischen einem Metallträger und einem Betonblock, mit offenen, beinahe ausdruckslosen Augen, in denen sich bloß ein Anflug von Überraschung und Enttäuschung spiegelte, als hätte sie ihren Regenschirm vergessen und nun zogen Regenwolken auf. Glänzende, manikürte rote Nägel, perfekt sitzendes blondes Haar, elegante Kleidung, dezenter Schmuck. Adela wirkte lebendig, ein wenig wie ein aufgeschrecktes Kaninchen im Scheinwerferlicht eines Autos. Nur ein paar Hinweise verrieten dem Betrachter, was geschehen war: der unnatürliche Winkel ihres rechten Arms; das rote Rinnsal, das vom Nasenrücken bis auf die Wange reichte; das bisschen Purpurrot, das aus dem bemalten Mundwinkel floss; und Adelas Augen, die in unendliche Ferne blickten.
Neben ihr stand ein gebückter Sanitäter, in den Händen eine Decke, die er gleich sanft, fast schon ehrfürchtig über den verrenkten Körper breiten würde. Dahinter waren Gaffer zu erkennen, und man konnte gar nicht anders, als mit ihnen zu gaffen. Eine beunruhigende, intime, schrecklich schöne Szene.
Aber Winter fand, dass es auch in seiner eigenen Arbeit Schönheit zu entdecken gab. Zum Beispiel das Bild ganz rechts in der obersten Reihe: die zusammengesunkene Gestalt eines alten Mannes an einem Baum beim People’s Palace im Glasgow Green. Er hatte das Foto frühmorgens an einem bitterkalten Tag im tiefsten Januar geschossen. Eine Stunde zuvor war der Mann, den sie den Elvis von Bridgeton nannten, tot aufgefunden worden. Er war erfroren. Die Cops meinten, sie hätten ihn ganz gut gekannt, und als sie den alten Kerl so sahen, kämpften sie sichtlich mit den Tränen. Einer erzählte ihm, er habe sie immer mit einem Ständchen begrüßt: » Jailhouse Rock«. Und er habe meist einen Lodenmantel mit ausgebeulten Taschen getragen, in denen die eine oder andere Flasche steckte.
Anscheinend hatte Elvis einen ordentlichen Schluck aus der Pulle genommen, denn er hatte sich so, wie er war, zur Nachtruhe gebettet, in Skimütze und Lodenmantel, dazu ein bisschen Pappe und alte Zeitungen. In der Nacht war die Temperatur rapide gefallen, sodass der alte Mann nicht wieder aufgewacht war. Au f W inters Foto war das Eis in Elvis’ Bart und auf seiner Mütze zu erkennen, das Graublau seiner Wangen, die mit Zuckerguss überzogenen Wimpern, die sich nicht mehr öffnen wollten. Elvis hatte das Gebäude endgültig verlassen, doch wie er dort lag, hatte er etwas Vornehmes an sich. Als hätte er die Erniedrigungen, die ihm die tückische Welt zugedacht hatte, mit einem Lächeln ertragen, um jetzt, zwischen Leben und Tod, wortwörtlich zu erstarren.
Bei Winters anderen Fotos musste man wohl etwas länger suchen, um so etwas wie
Weitere Kostenlose Bücher