Sniper
lebten, müsse regelmäßig gewachst werden, um gesund zu bleiben. Ziemlich überzeugend – wenn man eine junge, naive und beschwipste Frau ist.
Zum Glück verschonte er mich mit diesem Märchen – ich hoffe, weil er davon ausging, dass ich es ihm ohnehin nicht abgekauft hätte. Der einen oder anderen jungen Frau hat er wohl auch schon glaubhaft die Geschichte untergejubelt, sein Job sei es, in einem Geldautomaten zu sitzen und die Scheine auszugeben. So betrunken hätte ich allerdings gar nicht sein können, um mir so ein Märchen auftischen zu lassen.
Ich erkannte auf den ersten Blick, dass er dem Militär angehörte. Er war durchtrainiert, hatte den typischen Kurzhaarschnitt und einen Dialekt, an dem man sofort erkannte, dass er nicht aus der Gegend kam.
Schließlich gab er zu, beim Militär zu sein.
»Und was machst du da?«, fragte ich.
Er wich dem Thema zunächst noch eine Weile aus, bis er schließlich mit der Wahrheit herausrückte: »Ich habe gerade das BUD/S abgeschlossen.«
Ich sagte dann so etwas wie, okay, du bist also ein SEAL.
»Ja.«
»Ich kenne euch Typen«, sagte ich. Meine Schwester hatte sich erst kurz zuvor scheiden lassen. Mein Schwager wollte ein SEAL werden – er hatte die Ausbildung teilweise durchlaufen – und daher wusste ich (oder dachte es zumindest), was es mit den SEALs auf sich hatte.
Das sagte ich Chris auch so. Nein, eigentlich sagte ich:
»Du bist überheblich, egoistisch und ruhmsüchtig, du lügst wie gedruckt und denkst, du kannst dir alles erlauben.«
Ja, ich zeigte mich von meiner Schokoladenseite.
Seine Reaktion darauf gefiel mir. Er grinste nicht süffisant, gab keine beleidigte Antwort und reagierte auch nicht angegriffen. Er schien verwundert.
»Warum sagst du das?«, fragte er aufrichtig interessiert.
Ich erzählte ihm von meinem Schwager.
»Ich würde, ohne mit der Wimper zu zucken, für mein Land sterben«, entgegnete er. »Das ist doch nicht egoistisch. Das ist doch eher das genaue Gegenteil.«
Er war so idealistisch und romantisch, wenn es um Dinge wie Patriotismus und den Dienst für sein Land ging, dass ich ihm einfach glauben musste.
Wir unterhielten uns eine Zeit lang, bis meine Freundin herüberkam und ich mich wieder ihr zuwandte. Chris signalisierte, er würde dann nach Hause gehen.
»Warum?«, fragte ich.
»Na ja, du hast doch gesagt, dass du niemals mit einem SEAL ausgehen würdest.«
»Oh nein, ich sagte nur, dass ich niemals einen heiraten würde. Ich habe nicht gesagt, dass ich nicht mit einem ausgehen würde.«
Seine Miene hellte sich auf.
»Wenn das so ist«, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln, »schreibe ich mir doch gleich deine Telefonnummer auf.«
Schließlich blieben wir beide noch eine Weile. Genau genommen sogar, bis das Lokal schloss. Als ich aufstand, um mit meiner Freundin zu gehen, wurde ich versehentlich gegen ihn gedrückt. Er war durchtrainiert und muskulös und roch so gut, dass ich ihm einfach einen kleinen Kuss auf den Hals geben musste. Wir verließen das Lokal und er ging mit uns über den Parkplatz, wo ich mich erbrach, weil ich zu viele Scotch auf Eis getrunken hatte.
Wie könnte man sich wohl nicht in eine Frau verlieben, die sich gleich bei der ersten Begegnung übergibt? Ich wusste sofort, dass ich es hier mit einer Frau zu tun hatte, die ich gerne näher kennenlernen wollte. Aber das war zunächst ein Ding der Unmöglichkeit. Ich rief sie gleich am nächsten Vormittag an, um mich zu erkundigen, ob es ihr besser ging. Wir unterhielten uns und lachten viel. Danach rief ich noch ein paar Mal an und hinterließ ihr Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. Aber sie rief nie zurück.
Die Jungs in meinem Team fingen schon an mich aufzuziehen. Sie schlossen Wetten ab, ob sie mich jemals von sich aus anrufen würde. Wir unterhielten uns zwar ein paar Mal, sofern sie überhaupt ans Telefon ging – vielleicht dachte sie, es wäre jemand anderes dran – aber von sich aus rief sie mich nie an. Und nach einer Weile wurde mir das auch klar.
Dann trat plötzlich ein Wandel ein. Ich erinnere mich, wie sie mich zum ersten Mal anrief. Wir waren an der Ostküste und trainierten gerade.
Als wir das Gespräch beendet hatten, rannte ich in die Stube und fing an, vor Freude auf den Betten meiner Kameraden herumzuspringen. Ich deutete ihren Anruf als untrügliches Zeichen dafür, dass sie wirklich Interesse an mir hatte. Und es bereitete mir ein unbändiges Vergnügen, die Schwarzseher in meinem Team über diese
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