Sniper
junger Erwachsener aus. Urplötzlich drehte sich der Junge, den ich beobachtete, abrupt um und begann in die entgegengesetzte Richtung zu gehen.
Die Gruppe holte ihn schnell ein. Einer zückte eine Pistole und legte seinen Arm um den Hals des Jungen.
In diesem Augenblick feuerte ich. Der Junge, den ich soeben gerettet hatte, rannte weg. Ich erwischte noch zwei oder drei seiner potenziellen Entführer; die anderen kamen davon.
Die Söhne von Wahlleitern waren beliebte Ziele. Die Aufständischen benutzten Familienangehörige, um Druck auf die Beamten auszuüben. Oder aber sie töteten Familienangehörige als Warnung für andere, die Regierungswahlen nicht zu unterstützen bzw. überhaupt zur Wahl zu gehen.
Das Anzügliche und das Surreale
Eines Abends übernahmen wir ein Apartment, das wir für verlassen hielten, da es leer war, als wir dort ankamen. Ich wechselte mich mit einem anderen Scharfschützen ab und als ich weg war, stöberte ich ein wenig, um zu sehen, ob es etwas gab, das ich verwenden konnte, um mein Versteck gemütlicher zu machen.
In einer offenen Kommodenschublade sah ich Reizwäsche. Slips ouvert, Negligés – sehr aufreizende Sachen.
Passten mir nur dummerweise nicht.
Oft fand ich in den requirierten Gebäuden und Wohnungen eine seltsame, surreale Mischung verschiedenster Dinge vor; Gegenstände, die völlig deplatziert wirkten. Wie zum Beispiel die Autoreifen, die wir auf einem Dach in Falludscha sahen, oder die Ziege, die wir im Badezimmer eines Apartments an der Haifa Street entdeckten.
Oft fiel mir etwas derart Surreales auf und dann verbrachte ich den Rest des Tages damit, darüber nachzudenken, was wohl hinter dieser oder jener seltsamen Entdeckung stecken mochte. Nach einer Weile erschien mir dann selbst der bizarrste Fund als völlig normal.
Was mich weniger überraschte, das waren die Fernsehgeräte und Satellitenschüsseln. Sie waren überall. Auch in der Wüste. Wir stießen oft auf eine kleine Nomadensiedlung mit Zelten statt Häusern und nichts weiter als einigen Tieren; und um die Zelte herum viel weites Land, in dem sie sich verloren. Aber trotzdem waren sie mit Satellitenschüsseln bestückt.
Nach Hause telefonieren
Eines Nachts war ich gerade als Sicherungsposten eingeteilt und alles war ruhig. Die Nächte in Bagdad waren vergleichsweise entspannt. Die Aufständischen griffen normalerweise nicht an, weil sie wussten, dass wir ihnen in technischer Hinsicht überlegen waren und Nachtsichtgeräte, Infrarotsensoren und vieles mehr zur Verfügung hatten. Also beschloss ich, mir eine Minute Zeit zu nehmen und meine Frau in den USA anzurufen, um ihr zu sagen, dass ich an sie denke.
Ich griff zu unserem Satellitentelefon und wählte die Nummer. Wenn ich mit Taya telefonierte, sagte ich ihr normalerweise, ich sei im Lager, selbst wenn ich gerade Dienst als Scharfschütze schob oder sonst irgendwo im Einsatz war. Ich wollte sie nicht beunruhigen.
Aus irgendeinem Grund erzählte ich ihr in dieser Nacht, was ich gerade tat.
»Darfst du jetzt überhaupt reden?«, fragte sie.
»Ja, klar, kein Problem«, sagte ich. »Ist nichts los hier.«
Ich brachte noch zwei oder drei Sätze hervor, als jemand von der Straße auf das Gebäude zu schießen begann.
»Was war das?«, fragte sie.
»Ach, nichts«, sagte ich entspannt.
Während ich sprach, fielen immer mehr Schüsse.
»Chris?«
»Na ja, ich glaube, ich muss jetzt los«, sagte ich.
»Geht’s dir gut?«
»Ja, alles bestens«, log ich. »Nichts los hier. Ich melde mich später wieder.«
Gerade in diesem Augenblick schlug in meiner Nähe eine Panzerabwehrrakete in der Mauer ein. Der Schutt knallte mir ins Gesicht und hinterließ einige »Schönheitsflecken« und temporäre Tattoos.
Ich ließ das Telefon fallen und erwiderte das Feuer. Ich entdeckte ein paar Kerle am Ende der Straße und erschoss ein oder zwei Aufständische. Die Scharfschützen, die zusammen mit mir Dienst hatten, erledigten ebenfalls noch einige, bevor der Rest das Weite suchte.
Als der Kampf zu Ende war, griff ich wieder zum Hörer. Der Akku war leer, deshalb konnte ich nicht zurückrufen.
In den nächsten Tagen war ziemlich viel los, sodass ich Taya erst zwei oder drei Tage später wieder anrufen konnte, um zu sehen, wie es ihr ging.
Sie fing an zu weinen, sobald sie abgehoben hatte.
Es stellte sich heraus, dass ich in jener Nacht nicht richtig aufgelegt hatte. Sie hatte den gesamten Schusswechsel mitbekommen, einschließlich der Geschosseinschläge,
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