Snobs: Roman (German Edition)
gesellschaftlichen Rang der Laverys tatsächlich überschätzte. Er hatte nur vage Vorstellungen von den feinen Abstufungen der Londoner Gesellschaft, und da er keinerlei Kenntnisse über die wirklich exklusiven Kreise besaß, hatte er auch keine Ahnung, was für eine Außenseiterin Edith zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit gewesen war. Er hielt seine neue Geliebte immer noch für überaus vornehm und ging davon aus, dass sie aus einer entsprechend imposanten Familie kam. Doch sein Unbehagen hatte andere Gründe. Wahrscheinlich waren es mehr die üblichen Befürchtungen, dass durch diese Vorstellung bei den Eltern ihre Beziehung, die ursprünglich nicht mehr als ein Flirt gewesen war, nun einen formellen Charakter und den Anstrich von Endgültigkeit bekam. Simon hatte sich bisher nie damit auseinander gesetzt, dass er den Klippen »Scheidung«, »Aufteilung des Eigentums«, »Unterhalt«, »Sorgerecht« und allen möglichen anderen deprimierenden Themen entgegensteuerte, die auf einmal bedrohlich vor ihm auftauchten. Er vermutete, dass Mr. Lavery ihn auf Umwegen nach seinen Absichten befragen könnte, und erkannte plötzlich, dass er eigentlich keine Absichten hatte – jedenfalls keine festen. Doch dann blickte er zu Edith hinüber, und wenn er es sich recht überlegte, sah sie wunderschön aus, ihr Profil war jedenfalls wesentlich hübscher als Deirdres, die von der Seite immer etwas dümmlich gewirkt hatte, und er hätte es wirklich schlechter treffen können. Mit diesem Gedanken stieg er beruhigt und bestärkt aus dem Auto.
Mrs. Lavery hatte ihrem Mann von der Begegnung bei Colefax berichtet. Sie hatte die Worte unseres Gesprächs so lange hin und her gedreht, bis sie einen Hoffnungsschimmer darin entdecken konnte. Und so rief sie, während sie für den Liebhaber ihrer Tochter kochte, zum Wohnzimmer hinüber: »Was, glaubst du, hat er mit ›niedergeschlagen‹ genau gemeint?«
Kenneth Lavery war über die Wendung der Dinge fast genauso
unglücklich wie seine Frau, aber aus achtenswerteren Motiven. Er hasste es, seine geliebte »Prinzessin« in einen öffentlichen Skandal verwickelt zu sehen. Er hasste es, die Verzweiflung seiner Frau miterleben zu müssen. Und er war sich durchaus bewusst, dass seine Tochter eine Machtposition in den Wind geschlagen hatte, die ihr große Dinge ermöglicht hätte, und dass sie sich dort, wo sie hingerannt war, kaum noch innerhalb der achtbaren Gesellschaft befand. Er war stolz auf seine Tochter gewesen, die große Dame, und ihr Absturz machte ihn traurig. Doch letzten Endes nahm er Ediths Torheit wesentlich gelassener hin als seine Frau. Im Unterschied zu ihr hatte er sich nie Illusionen hingegeben, dass Ediths Heirat sein eigenes Leben groß verändern würde.
»Ich glaube, er hat gemeint, was er gesagt hat. Charles ist niedergeschlagen. Natürlich ist er niedergeschlagen. Seine Frau ist gerade mit einem anderen Mann davongelaufen. Was erwartest du da?«
Stella Lavery streckte den Kopf durch die Tür. »Ich dachte nur, es klingt, als hätte sich Charles an diese Vorstellung noch nicht gewöhnt. Ich frage mich, ob es Sinn hat, Kontakt mit ihm aufzunehmen … ?« Sie verstummte, als ihr Mann langsam, aber bestimmt den Kopf zu schütteln begann.
»Meine Liebe, nicht Charles hat beschlossen, die Ehe zu beenden. Es ist egal, was er denkt. Ihn trifft keine Schuld. Und ich halte es auch nicht für fair, in seinen Wunden zu stochern. Vielleicht kommt er über sie hinweg, vielleicht nicht. So oder so wird es ihm nicht helfen, wenn du seinen Hoffnungen neue Nahrung gibst. Er ist ein netter Mann und unsere Tochter hat ihm übel mitgespielt. Wir müssen nun den Anstand haben, uns da herauszuhalten.« Nach diesen Worten wandte er sich wieder dem Fernseher zu.
Seine Frau konnte ihm seine Reaktion nicht verdenken, denn im Grunde war sie der gleichen Meinung wie er. Auch wenn sie sich um eine moderne, tolerante Haltung bemühte, schämte sie sich doch zutiefst für Ediths Verhalten. Ihr Leben lang hatte sie sich in ihrer Fantasie als vorbildlich geeignet betrachtet, um im öffentlichen Leben Englands eine große Rolle zu übernehmen. Sie versank in Tagträumen,
wenn sie die Hofdamen in ihren Hartnell-Kleidern aus den Fünfzigerjahren betrachtete, die sich im Parlament hinter der Königin einfanden, und dachte, dass sie, Stella Lavery, eine herausragende Duchess von Grafton oder Countess von Airlie hätte abgeben können, wenn das Schicksal sie auf diese Position befohlen hätte. Sie hätte
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