Snobs: Roman (German Edition)
unwiderruflich festlegte. Doch ihr Bauch wollte die Rolle der delphischen Ziegeneingeweide nicht spielen und verweigerte jede Meinung. Edith war weder in Hochstimmung noch niedergeschlagen, sie hatte lediglich das Gefühl, dass es viel zu tun gab. Es klopfte leise an der Tür und ihre Mutter kam mit einer Tasse Tee herein.
Man darf ohne zu übertreiben behaupten, dass Stella Lavery an diesem Morgen so glücklich war, dass sie meinte zu zerspringen. Ihr Herz drohte stillzustehen, erschöpft von der Anstrengung, das fieberheiße Blut befriedigten Ehrgeizes durch ihre Adern zu pumpen. Es stimmt nicht, dass sie ihre Tochter bedenkenlos jedem Erben eines reichen Marquess dargebracht hätte, auch wenn sie gegen diesen eine tiefe Abneigung empfand; es war nur so, dass sie eine solche Abneigung unmöglich entwickeln konnte, solange er nicht mit dem Messer auf sie losging. Ich glaube nicht, dass sie sich über Charles als Mensch viele Gedanken gemacht hatte. Er war angenehm, hatte gute Manieren und sah nicht schlecht aus. Das war alles, was sie von ihm wusste – und wissen wollte. Das und die Tatsache, dass ihre Tochter ab übermorgen die Countess Broughton wäre.
Für Stella war es ein leises Ärgernis gewesen, dass der Titel ihrer Tochter nicht Countess von Broughton lautete, was sie klangvoller fand, und sie war vom ersten Broughton sehr enttäuscht, dass er beim Empfang der Adelswürde nicht um das von gebeten hatte. Schließlich hatten das auch die Cholmondeleys und die Balfours getan, als ihnen ihr Titel verliehen wurde. Nun gab es zwar ein Dorf namens Cholmondeley und tief in Schottland auch ein Balfour, aber existierte nicht auch ein Broughton? Es musste doch irgendwo eins geben! Aber da man eben »nicht alles haben« kann, hatte sie sich an den Titel gewöhnt, und es bereitete ihr sogar Vergnügen, ihre Freunde zu korrigieren. Das ersehnte von würde schon noch kommen, mit dem Marquess-Titel – alles zu seiner Zeit.
»Guten Morgen, mein Liebling.« Sie flüsterte, weil sie dadurch eine große Zärtlichkeit in ihre Worte zu legen glaubte. Dies war ein Moment, in dem es ihr anstand, Wehmut und Bedauern über den Verlust ihres innig geliebten Kindes zu empfinden. Es ließ sich jedoch nicht daran rütteln, dass Mrs. Lavery ungeachtet der echten, tiefen Freude, die Edith ihr in all den Jahren geschenkt hatte, an diesem Tag restlos glücklich war. Nicht nur bekam sie einen Sohn dazu, wie es so schön heißt, sondern ihrer Meinung nach auch eine ganz neue Position am Firmament. Bisher für sie verschlossene Tore würden nun alle vor ihr aufspringen. Schien ihr zumindest. Völlig verblendet war Stella Lavery nicht. Sie war sich durchaus bewusst, dass es an ihr selbst lag, diese Chance in einen Erfolg zu verwandeln; wenn sie die Sympathie und sogar Freundschaft einiger der Menschen erringen könnte, die sie nun kennen lernen würde – sie dachte da besonders an Lady Uckfield –, dann könnte sie für Edith zum Trumpf werden statt zur Last (wie sie insgeheim und widerstrebend befürchtete). Sie wusste auch: Gut Ding braucht Weile. Niemals durfte sie den leisesten Anschein eines Raubtiers auf Beutezug erwecken. Behutsam und in aller Ruhe mussten gemeinsame Interessen angesprochen, Bücher verliehen, Schneiderinnen empfohlen werden. Dieser schwindelerregende Vormittag gaukelte ihr glänzende Bilder vornehmer Vergnügungen vor – wie sie mit Lady Uckfield einen leichten Lunch einnahm, bevor
sie die Handschuhe überstreiften und nach einem Taxi winkten, um zu ihrer gemeinsamen Hutmacherin zu eilen …
»Morgen, Mami.« Edith war schon an die Tagträumereien gewöhnt, in denen ihre Mutter zu leben schien. Sie missgönnte ihrer Mutter die Freude über diese Heirat nicht, hoffte aber, diese Freude hätte nicht dazu beigetragen, sie, Edith, in den reißenden Strom zu stoßen, mit dem sie nun dem Titel entgegentrieb. »Regnet es?«
»Nein, das Wetter ist himmlisch. Übrigens besteht kein Anlass zur Eile. Es ist erst halb neun. Die Friseuse kommt um zehn, dann haben wir noch zwei Stunden, bis wir in St. Margaret’s sein müssen. Ich mache uns Frühstück, solange du badest, und an deiner Stelle würde ich nur die Unterwäsche anziehen und den Morgenmantel drüber. So kannst du dann bleiben, bis alles fertig ist.«
»Ich bin nicht wahnsinnig hungrig.«
»Na, irgendetwas musst du schon essen. Sonst wird dir schlecht.«
Edith nickte und stand langsam auf. Dies war einer jener Momente, in denen sie die kleinste Bewegung
Weitere Kostenlose Bücher