Snobs: Roman (German Edition)
ihres Körpers überdeutlich spürte, sogar ihre Gesichtsmuskeln. Und ihre Worte schienen nicht aus ihrem eigenen Kopf, sondern aus einer anderen Quelle zu kommen. Obwohl sie hellwach und überhaupt nicht müde war, fühlte sie sich wie unter Drogen. Oder besser, wie im Wachkoma – oder sogar hypnotisiert. Bin ich hypnotisiert?, fragte sie sich. Haben mich alle diese kritiklos hingenommenen Werte, die ich in mich eingesogen habe, seit ich drei war, in Trance versetzt? Habe ich über den ehrgeizigen Plänen anderer mich selbst verloren? Doch dann dachte sie an Charles – ein so netter Mann, der sie liebte und den sie inzwischen sehr gern mochte. Und natürlich dachte sie an Broughton und Feltham, den zweiten Besitz der Familie in Norfolk, und am meisten dachte sie an die Wohnung, in der sie gerade stand, und an ihren Bürojob in der Milner Street, und an die Möglichkeiten, die das eine Leben bot, und an die Möglichkeiten des anderen, die kaum zählten und schon ausgeschöpft waren, und bei diesen Gedanken warf sie den Kopf zurück und ging zum Bad. Ihr Vater kam gerade heraus. Er lächelte reichlich wehmütig.
»Alles in Ordnung, Prinzessin?«, fragte er und sie wusste, dass er wahrscheinlich aufhören müsste, sie Prinzessin zu nennen, weil das kleinbürgerlich klang, und sie beschloss auf der Stelle, dass sie ihm nicht erlauben würde, sie nicht mehr Prinzessin zu nennen. Ein Beschluss, den sie fast sofort wieder umstieß.
»Bestens. Und wie geht’s dir?«
»Bestens.«
Die Hochzeit würde Kenneth Lavery Unsummen kosten. Es hätten noch weitaus höhere Kosten entstehen können, doch Lady Uckfield hatte die Genehmigung erwirkt, den Empfang im St. James’s Palace abzuhalten. Gerade deshalb waren die beiden Laverys fest entschlossen, die Rechnung für alles Weitere zu übernehmen. Sie folgten nicht einmal der modernen, wenig charmanten Sitte, die Eltern der Brautjungfern für deren Kleider zahlen zu lassen. Edith war schließlich ihre einzige Tochter und niemand sollte Anlass zur Vermutung haben, sie stamme aus einer Familie, die ihren Verpflichtungen nicht nachkommen könne. Mrs. Lavery, die in einem Barbara-Cartland-Roman lebte, hatte sogar die Frage aufgeworfen, ob man von ihnen nicht eine Mitgiftregelung für Edith erwartete, und obwohl ihr Mann das Thema Lord Uckfield gegenüber angesprochen hatte, war nichts vereinbart worden. Wahrscheinlich, weil die Uckfields sich ihrerseits nicht auf einen gesetzlichen Anspruch einlassen wollten. Wie Lady Uckfield betont hatte, bevor sie die Frage endgültig vom Tisch wischte, konnte man heutzutage nie sicher sein, dass diese Dinge für die Ewigkeit gemacht waren. Edith war ihren Eltern dankbar, dass sie erhobenen Hauptes in Broughton einziehen konnte, auch wenn ihr dies wieder einen der Million Stricke bewusst machte, die sie wie Gulliver an den Boden fesselten.
Sie legte sich in der Badewanne zurück und beschwor ihre Lieblingsfantasie herauf, wie sie den Vorsitz in Wohltätigkeitsausschüssen führte, Spenden für Behinderte sammelte, an Galaabenden vor verschiedenen königlichen Hoheiten knickste und sie dann zu ihren Logen führte, die Kranken im Dorf besuchte – sie hielt inne. Besuchte man immer noch die Kranken im Dorf? Sie merkte, dass sie in ihren
Tagträumen unbewusst in eine Krinoline geschlüpft war. Und sie dachte an Lady Uckfield und daran, was für eine vorbildliche Schwiegertochter sie sein würde, und dass eines Tages alle die Stunde preisen würden, in der Edith in ihr Leben trat.
Ich traf gegen zwanzig nach zehn in St. Margaret’s ein und bekam meine weiße Nelke ausgehändigt, natürlich ohne den Farn, mit dem die Floristin sie so sorgsam zusammengebunden hatte, sowie meine Gästeliste für die vorderen Bänke. Es war die zu erwartende Mischung aus Herzoginnen und Kindermädchen, dazu Plätze, die den Pächtern und dem Personal von Broughton zugewiesen waren, dahinter Plätze für die Pächter und das Personal von Feltham. Von der königlichen Familie würden die Princess Royal und sämtliche Kents erscheinen außer dem Prince of Wales (eine leichte Enttäuschung für Lady Uckfield, eine Tragödie für Mrs. Lavery), da er auf einer Goodwillreise in der Südsee unterwegs war. Noch würden wir die Königin begrüßen dürfen. Warum, weiß ich nicht, da ich glaube, dass sich Ihre Majestät und Lady Uckfield gut verstanden. Dass für die königlichen Gäste nicht ich zuständig war, brauche ich wohl nicht zu erwähnen; diese Ehre fiel Lord
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