Snobs: Roman (German Edition)
das Leben. Oder zumindest seine Werteskala. Von der Simon Russell keine Ahnung hatte, Lady Uckfield aber sehr wohl.
Mich interessierte jedoch an diesem Abend nicht, wie Lady Uckfield Simon Russell aufnahm – wie vorauszusehen, mit leiser Belustigung –, sondern wie Edith auf ihn reagierte. Ihr Missmut und ihre etwas aufgesetzte Feindseligkeit von gestern Abend waren verschwunden, eine Pose des Schweigens an ihre Stelle getreten. Sie sah noch schöner aus als gestern, im schwarzen Rock und cremefarbener Seidenbluse, eine Perlenkette um den Hals und eine weitere in einem dicken Knäuel ums Handgelenk geschlungen. In Ermangelung eines besseren Worts möchte ich sagen, dass sie seit ihrer Hochzeit nicht mehr so sexy ausgesehen hatte. Sie hatte ihre kühle Herablassung nicht abgelegt, die ihr wahrscheinlich schon in Fleisch und Blut übergegangen war, doch als wir hereinkamen, sah sie vom Sofa mit jenem gezügelten Blick auf, der, wie ich aus Erfahrung gelernt habe, bei einer Frau im Allgemeinen auf ernsthafte Absichten schließen lässt.
Rückblickend muss ich sagen, dass Ediths Kalkül, durch den Rückzug aufs Land allen Schwierigkeiten zu entgehen, recht fragwürdig war. Wie in einer entlegenen Kolonialstation im indischen Hinterland führte das Fehlen von Gleichgesinnten nur dazu, dass jeder, der zu diesem Außenposten vorstieß, der angeödeten Gattin in besonders vorteilhaftem Licht erschien. Ich bin nicht sicher, ob Ediths Tugend in größerer Gefahr gewesen wäre, wenn sie und Charles sich ins turbulente Leben der Partys, Wohltätigkeitsveranstaltungen und anderen Belanglosigkeiten gestürzt hätten, das in London auf sie wartete. Wahrscheinlich ganz im Gegenteil. Ein reges Gesellschaftsleben hat das große Verdienst, die Langweiligkeit des eigenen Partners zu verschleiern. Das Paar, das nie miteinander redet, wird auch nie entdecken, wie wenig an Gemeinsamkeiten bei ihm vorhanden ist. Zweisamkeit dagegen ebnet oft den Weg zur Scheidung, wofür es in der Mittelschicht nach der Pensionierung viele Beispiele gibt. Von einem bin ich überzeugt: In London hätte sich Edith nie zu Simon Russell hingezogen gefühlt. Er sah erstaunlich gut aus, wie ich schon sagte, doch in Wahrheit war der Trailer besser als der Film. Simon war redegewandt und flirtete wirklich gekonnt, so dass es ein Vergnügen war, ihn in Aktion zu sehen, doch wenn es darauf ankam, wenn es eng
wurde, mangelte es ihm an Substanz. Ich will damit keinesfalls sagen, dass ich ihn nicht mochte. Im Gegenteil, ich hatte ihn sehr gern. Er konnte sich bestens über Hypotheken oder Europa oder Madonna auslassen, aber konnte Charles das nicht auch (jedenfalls über die ersten beiden Themen)? Doch vom heiligen Feuer, der charismatischen Flamme, vor der die Welt sich in Leidenschaft verzehrt, besaß Simon keine Spur. Zumindest ich konnte keine Spur davon entdecken.
»Verraten Sie mir doch, Mr. Russell, was für Rollen spielen Sie am liebsten?« Das war Lady Uckfield. Sie achtete immer peinlich darauf, Fremde und vor allem Jüngere mit Mr. und Mrs. oder dem korrekten Titel anzusprechen. Dies wie auch ihr ganzes Vokabular sollte vor allem ihr Selbstbild als Überlebende der Belle Epoque untermauern, die sich wie durch ein Wunder ins moderne England hinübergerettet hatte. Sie gefiel sich in der Vorstellung, dass man an ihrem Verhalten und ihren Umgangsformen sehen konnte, wie man es damals machte, als alles noch richtig gemacht wurde. Wie Lady Desborough oder die Countess von Dudley oder die Marchioness von Salisbury oder andere vergessene Schönheiten des Fin de Siècle aufgetreten wären, die ihr Leben zur Kunst gemacht hatten – einer Kunst, die mit ihnen ausstarb. Zu dieser sorgfältig einstudierten Darbietung gehörte auch, dass Lady Uckfield allem, womit sie in Berührung kam, die Aura der Einzigartigkeit verlieh. Sie legte großen Wert auf ihren irischen Schinken (»trocken und köstlich, in England einfach nicht aufzutreiben «), ihre französischen Kirschen (»ich stopfe mich richtig voll damit«) oder ihr gelbes amerikanisches Papier (»auf etwas anderem kann ich einfach nicht schreiben«). Das Amüsante an dieser Strategie war, dass Lady Uckfield nach dem Prinzip von des Kaisers neuen Kleidern von allen Gästen die Zustimmung erpresste, auch sie könnten einen enormen Unterschied bei allem feststellen, was ihnen da vorgesetzt wurde. Dies verstärkte wiederum die Vorurteile, die die Gäste zum Lügen veranlasst hatten. Aber das Essen war immer gut
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