Snow Angel
retten können.
„Sie sind ein sehr umsichtiges Mädchen, Nina“, strahlt die Lehrerin. „Und toll, dass sie trotz Ihrer schweren Gehirnerschütterung und der sicher sehr schmerzhaften Kopfverletzung heute dennoch zum Unterricht erschienen sind.“ Etwas fragend weist sie allerdings auf die kleine zerschrammte Beule an Ninas Stirn. „Das da?“
„Oh, nein nein!“, reagiert Nina blitzschnell und greift sich an den Hinterkopf, der wenigstens unter der Mütze verborgen ist, was unbedingt die Vermutung zulässt, es könne sich eine weit schwerwiegendere Wunde dort verbergen.
„Oh, mein Gott, Mädchen! Gute Besserung wünsche ich Ihnen. Wenn es noch nicht geht, bleiben Sie doch ruhig noch ein paar Tage zu Hause!“, bekommt sie noch in warmem, mitleidigem Ton zu hören.
„Ach, es wird schon gehen!“, bleibt sie ihrer Heldenrolle lächelnd treu und erntet einen weiteren wohltuenden Mitleidsblick.
Nur ein paar Schritte entfernt stehen Dennis und Marc. Die beiden gehen Nina mit ihrer klettigen Art schon seit Wochen auf den Wecker. Eigentlich sind sie Freunde. Aber kurz vor Weihnachten hatte sie Marcs Drängen einmal nachgegeben und sich von ihm zu einem Kaffee einladen lassen. Seither scheint ein Konkurrenzkampf zwischen den beiden Mitschülern zu toben, den Nina geradezu lächerlich findet. Keinem der zwei hat sie jemals Hoffnungen gemacht. Aber sie benehmen sich, als hätte jeder irgendein verbrieftes Anrecht auf sie. Entsprechend stänkern sie sich, kaum dass Nina in ihre Nähe kommt, dermaßen an, dass sie an kämpfende Hähnchen erinnern. „Nina, du musst dich jetzt mal entscheiden“, sagt Marc in einem Tonfall, der wohl besonders dominant rüberkommen soll.
„Ich muss bitte WAS?“
Ich fasse es nicht, hat der sie noch alle?
„Du musst dich jetzt entscheiden, mit wem von uns du heute Abend ins Paco's gehst!“
„Klingeln bei dir noch alle Glocken, Marc?“ Nina ist perplex.
„Siehste, wusste ich doch, du Sackgesicht!“, höhnt Dennis. „Sie hat nicht das geringste Interesse an dir!“ Betont langsam und siegessicher wendet er sich Nina zu und legt ihr einen Arm um die Schulter. „Wenn sie geht, geht die süße Nina nämlich nur mit mir! Alter, du hast verschissen, ej!“
Nina windet sich aus der besitzergreifenden Geste und, schiebt Dennis sanft, aber deutlich beiseite und sagt lächelnd: „Passt mal auf, Jungs! Findet ihr es eigentlich angemessen, Bärenfelle zu verteilen, wenn ihr den Bären noch nicht mal gejagt, geschweige denn erlegt habt? Wir sind hier auf dem Parkplatz und nicht auf dem Marktplatz! Hier wird gar nichts verhandelt. Und nur dass ihr' s beide wisst: SO, wie ihr das hier anstellt, kriegt man keine Frau! Und schon gar nicht rum. Und schon gar nicht mich! Da müsst ihr schon noch mal ein bisschen üben. Geht und spielt mit was Giftigem!“
Betreten schauen die Freunde sich an. Die ganze demonstrativ zur Schau getragene Männlichkeit fällt in sich zusammen, als hätte Nina ihnen gerade die Luft abgelassen. Sie steigt in ihr Auto und lässt die beiden stehen. Als sie ihnen beim Wegfahren noch einmal lässig zuwinkt, haben sie den Mund immer noch nicht wieder zugekriegt.
Jetzt einen Mittagskaffee mit Jenny! Die wird sich kräuseln vor Lachen, wenn ich ihr die Story erzähle.
Seit dem Gespräch mit Jenny hat Nina das Gefühl, die ganze Geschichte müsste doch irgendwie noch zu einem glücklichen Ende kommen können. Schon den ganzen Morgen über hat sie es sich erlaubt, in jedem kleinen Detail die schönen Momente mit Simon wieder heraufzubeschwören. Sie schwebt auf Wolke sieben, ertappt sich ständig beim Träumen und seligen Lächeln. So auch jetzt, als sie es einfach übersieht, dass die Ampel längst auf Grün geschaltet hat und erst das ungeduldige Hupen ihres Hintermannes sie aus ihren Fantasien und Erinnerungen weckt.
Der Auftritt von Marc und Dennis eben hat ihr noch einmal so richtig klargemacht, was der Unterschied zwischen einem Jüngling und einem Mann ist. Umso mehr Flugzeuge schwirren jetzt in ihrem Bauch, wenn sie an Simon denkt. Und sie kann gar nicht mehr genug davon bekommen, sich in ihre Gedanken zu kuscheln wie in einen warmen, weichen Pelz.
Mittags ist es meist schwierig, in der Stadt einen Parkplatz zu finden. Heute hat sie Glück und kann ihren Golf in eine breite Lücke fahren, die ein fetter SUV freigemacht hat. Jenny hat gerade ihren steifen weißen PTA-Kittel ausgezogen, als Nina die Apotheke ihres Vaters
Weitere Kostenlose Bücher