So bin ich eben - Erinnerungen einer Unbezaehmbaren
eine seltsame Person mit orientalischen Wurzeln. Sie ist Schauspielerin und heißt Alice Sapritch. Ihre Freundin ist auch sehr schön, sie stammt aus Äthiopien. Mein eigenartiger Aufzug fällt den beiden sofort auf, vor allem meine durchnässten Schuhe. Alice reagiert mit einer Geste von unglaublicher Großzügigkeit für jene Zeit. Sie lässt uns kurz alleine und kommt mit einem fast neuen Paar Schuhe zurück. Und sie gibt sie mir, einfach so. Ich bin gerührt – und ihr für alle Zeiten dankbar.
Sartre, Beauvoir und die anderen
Zwar sind mir die neuen Schuhe um einiges zu groß, aber ein bisschen Zeitungspapier schafft da schnell Abhilfe, sodass ich beschwingt einen Fuß vor den anderen setzen kann.
Der neue Lebensabschnitt kann beginnen.
Solange Sicard, eine Freundin von Hélène Duc, hat bei mir irgendein Talent entdeckt, das sie fördern möchte. So bin ich jetzt Schülerin in ihrer Schauspielschule. Mein Traum, Schauspielerin zu werden, könnte in Erfüllung gehen.
Das Theater zieht mich magisch an. Für mich ist es die Verlängerung des Tanzes; der Körper, der sich in den Dienst der Worte stellt. Ohne die Geduld zu verlieren, probe ich immer wieder die Szenen, die Solange für mich aussucht. Für das Stück Der seidene Schuh von Paul Claudel, das Jean-Louis Barrault an der Comédie-Française inszeniert, besorgt sie mir eine Statistenrolle.
Diese kleine, stumme Rolle verleiht mir Flügel. Ich spiele in einem richtigen Theater – und in was für einem!
Mit großen Augen bestaune ich dieses wunderbare Haus, umarme in Gedanken seine Mauern und grüße jeden Tag wie alle Mitarbeiter voller Stolz den Concierge. Jetzt gehöre ich zur Familie der Schauspieler, zu diesem Stamm, der sich im Café de Flore und im Deux Magots versammelt. In diesen beiden Cafés treffen sich viele Künstler und Intellektuelle: der Dichter und Drehbuchautor Jacques Prévert, der Schriftsteller Jacques Audiberti, Pablo Picasso und seine Gruppe, der Schauspieler und Chansonnier Marcel Mouloudji, der Philosoph Maurice Merleau-Ponty, der Journalist Jacques-Laurent Bost sowie in Kürze Albert Camus und sein Freund Pascal Pia. Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir haben Le Dôme am Boulevard Montparnasse verlassen – zu viele Deutsche. Jetzt schreiben sie im Flore.
Im hinteren Teil des Lokals, in der Nähe des Ofens, diskutieren die beiden während ihrer Schreibpausen heftig. Der Philosoph veröffentlicht im Jahr 1943 Das Sein und das Nichts , seine Lebensgefährtin den Roman Sie kam und blieb .
Bei jedem Bombenalarm müssen die Gäste die Métrostation am Boulevard Saint-Germain aufsuchen; Sartre und Beauvoir hingegen gehören zu den Privilegierten, die mit Erlaubnis des Wirts im Lokal bleiben dürfen.
In den Straßen von Paris ist es eisig kalt. Wie schon so oft, gehe ich kurz ins Deux Magots, um mich aufzuwärmen. Ich kenne niemanden. Da ich kein Plappermaul bin, verkrieche ich mich in eine Ecke und beobachte. Die Kriegsjahre, diese Zeit des Leidens und der Demütigung, haben mich noch schweigsamer gemacht, als ich von Natur aus schon bin.
Doch ziehe ich mit meinen langen wilden Haaren, die bis zum Po gehen und mich warm halten, und meinem exzentrischen Kleidungsstil die Blicke der Gäste auf mich – neugierige, aber oft auch missbilligende.
Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, dann sehe ich eine Stadt, ein Land vor mir, niedergedrückt und mürbe gemacht durch seine Besetzung. Ich erinnere mich an viele schwierige Situationen, aber komischerweise auch an den Spaß, den es mir gemacht hat, Saint-Germain-des-Prés zu entdecken, dieses große Dorf, die Heimat einer enthusiastischen Jugend.
Das Geräusch stampfender deutscher Stiefel blieb diesem Viertel erspart. Mit Bernard Quentin gehe ich stundenlang spazieren.
In den Cafés sehe ich mir die Menschen an und höre ihnen zu.
Die Zeiten sind hart. Seit meiner Inhaftierung in Fresnes habe ich keine Lebensmittelkarte mehr. Mehr schlecht als recht schlage ich mich durch; das Geld, das der Notar meiner Mutter an Hélène Duc schickt, reicht gerade mal, um meine Miete in der Pension zu zahlen.
Und was ist mit meiner Mutter, meiner Schwester? Wo hat man sie inhaftiert? Noch immer habe ich keine Nachricht.
Diese Fragen lassen mich nicht los. Ich warte und hoffe.
Die Befreiung
Im Sommer 1944 ist man in Paris nervös.
Das Dritte Reich scheint keine Zukunft mehr zu haben, in Paris erwartet man die Befreiung durch die Alliierten. Die Straßen sind eine einzige Gerüchteküche.
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