So bin ich eben - Erinnerungen einer Unbezaehmbaren
ihnen wohl geht?
Ich bin erschöpft, aber glücklich. Erst seit ein paar Stunden bin ich frei. Ich empfinde eine verhaltene, unbestimmte Freude, ein eigenartiges Gefühl.
Obwohl ich erst sechzehn Jahre alt bin, fühle ich mich wie eine Erwachsene. Jetzt werde ich allein zurechtkommen müssen.
Ich verlasse die Pension, um mir ein bisschen die Füße zu vertreten; diese geschundene, besetzte Stadt ist der Ort, an dem ich meine eigene Freiheit entdecken will.
Ich gehe auf den Pflastersteinen auf und ab; die Straße hier führt zum Platz Saint-Sulpice mit seinem gewaltigen Brunnen.
Einige Passanten haben es eilig, bald ist Sperrstunde. Es wird allmählich Nacht. Und ich, ich hätte große Lust, meine Freude, nicht mehr im Gefängnis zu sein, hinauszubrüllen. Doch die Deutschen verbieten nahezu alles – zum Beispiel amerikanische Schlager. Doch meine Lippen öffnen sich, und ich singe aus voller Kehle »Over the Rainbow«! Die Besatzung und die Gestapo können mich mal.
Ich singe laut. Noch lauter. Zu laut. Die Gefahr missachte ich. Ich will diesen Augenblick der Freiheit, dieses riesige Glück, singen zu können, bis zuletzt auskosten.
Die Straßen von Paris
Als ich 1943 aus Fresnes entlassen wurde, war die große bunte Welt von Paris ein Buch mit sieben Siegeln für mich.
Nun führt mich Hélène Duc in die magische Welt des Theaters ein: Im obersten Stockwerk der Pension empfängt sie ihre Freunde vom Theater L’Odéon – und ich darf dabei sein.
Ich lerne ihre treue Mitstreiterin Yvette Étiévant kennen, eine Schauspielerin, die am Theater und beim Film Karriere machen wird. Sie nimmt sich meiner an, und ich höre ihr gebannt zu. Schließlich gestehe ich ihr meine Begeisterung für den Schauspielerberuf. Auf ihren Rat hin melde ich mich für die Aufnahmeprüfung der staatlichen Schauspielschule an.
Am Tag der Prüfung leiht Yvette mir ihren Mantel und ihr marineblaues Kleid. Vor einer Kommission, die keinerlei Regung zeigt, trage ich die Rolle der Hermione aus Racines Andromache vor. Ohne Erfolg, ich werde abgelehnt. Das ist zwar schmerzlich, doch es gibt einen versöhnlichen Kommentar von der Schauspielerin Béatrice Dusanne von der Comédie-Française: »Ein Frischling, aber mit Zukunft.«
Einige Jahre später wird sie mich bitten, an ihrem Abschiedsabend an der Comédie-Française teilzunehmen. Meine Freude wird übergroß sein, der Frischling hatte sich tatsächlich weiterentwickelt …
Seit meiner Entlassung aus dem Gefängnis sind erst ein paar Monate vergangen, und schon fühle ich mich als Kind von Saint-Germain-des-Prés.
Mit Bernard Quentin, einem jungen Kunststudenten, der später ein erfolgreicher Maler sein wird, bin ich gerne zusammen. Er wohnt mit seinem älteren Bruder in einem abgeteilten Zimmer neben meinem. Wir lachen viel, er ist sehr liebenswürdig, überschüttet mich mit Zärtlichkeit und beschützt mich. Stundenlang sehe ich ihm beim Arbeiten zu. Wenn mich dann in seinem Zimmerchen der Schlaf übermannt, nutzt er die Gelegenheit, um mein Porträt zu malen.
Die Stunden vergehen wie im Flug; zum Winterschlaf ziehe ich mich unter meine oder seine Bettdecke zurück. Ich esse wenig. Ohne einen Sou in der Tasche bleibt nur die karge Kost, die mir Freunde aus der Pension überlassen. Leider schmeckt sie nach nichts.
Der Winter ist so streng, dass ich meine Nase nicht vor die Tür strecken mag. Wo bleiben die ersten Frühlingsstrahlen, die meine Haut erwärmen? Ich habe nicht viel zum Anziehen, vor allem aber habe ich keinen Mantel.
Bernard Quentin hat die desolate Situation, in der ich stecke, sofort erkannt und bietet mir seinen abgetragenen kastanienbraunen Anzug an. Zur Komplettierung meiner Garderobe hat er noch einen Pullover und ein altes weißes Hemd im Angebot.
Die Klamotten sind mir zwar alle zu weit, aber ich bin glücklich mit ihnen. Ich kann wieder hinausgehen, die Außenwelt hat mich wieder.
Schon am nächsten Morgen spaziere ich durch die Straßen und schlendere am Ufer der Seine entlang. Die erstaunten Blicke der Passanten, die ich durch meine Kostümierung auf mich ziehe, amüsieren mich. Meine Bastschuhe halten nicht warm – aber was viel ärgerlicher ist: Beim nächsten Regen werden sie sich auflösen.
Ausgerechnet an dem Tag, an dem ich Hélène Duc zu zwei Freundinnen begleite, regnet es. Auf dem Treppenabsatz bemerke ich, dass aus meinen Schuhen Schwämme geworden sind; sie haben sich reichlich mit Wasser vollgesogen.
Die Frau, die uns empfängt, ist
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