So bin ich eben - Erinnerungen einer Unbezaehmbaren
liebevolle, verliebte und empfindsame Gesichter blicken.
Einige wenige werden allerdings allzu vertraulich, reden von der Rolle, die ich in ihrem Leben spiele, in einer Art, dass es mir Angst macht. Einige steckten mir ihren Wohnungsschlüssel zu, es gab unmoralische Angebote, dreist und ein bisschen pervers. Nun ja …
Doch das passiert ziemlich selten. Meistens respektiert man sich gegenseitig und hält den gebührenden Abstand, auch wenn jemand, von dem ich weder Name, Alter noch seine Lebensgeschichte kenne, der aber dennoch mit mir redet wie mit einer guten Freundin, mich neugierig macht. Es ist eine Situation, die einen verlegen machen kann, und ich will weder verletzt werden noch Objekt von Liebedienerei sein.
Auf der Bühne liefert der Sänger sich aus; sie ist wie ein Schaufenster, wie ein Präsentierteller. Das darf man nicht vergessen. Die Vorstellung, wie ein Hühnchen oder ein Tomatensalat auf einem Tablett herumgereicht zu werden, gefällt mir allerdings trotzdem nicht.
Wenn aus einem anonymen Publikum Individuen werden, dann entsteht eine neue Beziehung. Jedes Mal bin ich aufgeregt und staune, selten bin ich verärgert. Immer frage ich mich: Wer bin ich für sie oder ihn? Noch immer habe ich keine Antwort gefunden.
Das Doppeldeutige an meinem Beruf, das ich so liebe, hier spürt man es. Zunächst einmal sind die Menschen nur »Publikum« für mich, wenn sie aber in meine Garderobe kommen, werden sie zu Individuen, die ich zwar nicht kenne, mit denen ich aber meistens gerne zusammen bin. Dennoch bleiben sie Fremde für mich. Und für sie bin ich jemand, der auf eine seltsame Weise zu ihrem privaten Leben dazugehört. Man muss das Publikum ernst nehmen, darf ihm gegenüber nicht gleichgültig, ungeduldig oder brüsk sein. Das versuche ich.
In Deutschland besucht seit Jahren eine sehr schöne junge Frau meine Konzerte. Sie sitzt immer ganz vorn, nach jedem Konzert schenkt sie mir eine weiße Rose. Nie käme ich auf die Idee, sie zu fragen, was sie beruflich macht. Ich habe Angst, unser eingespieltes Verhältnis könnte umkippen in etwas Unkontrollierbares.
Ich bin bereits Teil ihrer persönlichen Welt, das genügt. Doch nie käme ich auf die Idee, mich nach einem Konzert durch die Hintertür davonzustehlen. Ich weiß, dass einige Kollegen das tun, ich könnte es nicht. Das Publikum nicht in der Garderobe zu empfangen, zeugt von einem Mangel an Dankbarkeit, von einem Mangel an Höflichkeit, von einem Mangel an Menschlichkeit. Wer das tut, weiß offenbar auch nicht viel von der Besonderheit unserer Beziehung. Dabei machen wir alles, um diese aufzubauen. Das dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren. Man muss Danke sagen können.
Ich gebe es zu, ich empfange das Publikum auch aus Neugier. Menschen und ihre Gesichter haben mich immer interessiert.
Wenn ich in einem Bistro sitze, schaue ich mich um, ich versuche, ein paar Worte aufzuschnappen, und stelle mir das Leben dieses oder jenes Gastes vor. Ob sich das Paar da drüben langweilt? Denn das soll vorkommen. Der Besuch dieser mir zunächst fremden Menschen in meiner Garderobe ist etwas Ähnliches. Warum wollen sie mich sehen? Warum sind sie ins Konzert gekommen? Wer sind sie überhaupt?
Wenn man ihnen nicht begegnen will, warum singt man dann vor ihnen?
Ich könnte heute einzig als die Ikone von Saint-Germain-des-Prés durch die Welt ziehen und nur noch »Si tu t’imagines«, »Déshabillez-moi«, »La javanaise« und »Les feuilles mortes« singen. Es würde funktionieren. Aber das wäre der Tod für mich. Ich wäre nur noch eine Mumie. Ich will aber Teil des Lebens sein.
Als Sängerin möchte ich weiterhin auf Entdeckungsreise gehen und neue Lieder kennenlernen. Und die jungen Textdichter, sie schreiben für mich. Sie denken dabei an meine Eigenart, an das, was ich für sie repräsentiere. Und sie kennen die Kraft, die mich antreibt weiterzumachen.
Für jedes Konzert wähle ich die Lieder und deren Abfolge eigens aus. Gut, es gibt einige Lieder, die sich mir aufdrängen, die von Anfang an dabei sind.
»J’arrive« singe ich zum Beispiel, seit ich es zum ersten Mal gesungen habe, jeden Abend. Genau wie »La chanson des vieux amants« . Lange Zeit habe ich »Les feuilles mortes« gesungen. Inzwischen habe ich es durch »La chanson de Prévert« ersetzt. »La Javanaise« ist ein Chanson, von dem ich mich nie trennen werde.
Das Publikum unterstützt mich bei meinen Wagnissen und Abenteuern. Ihm verdanke ich alles, ihm und meinen Musikern. Die
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