So bitterkalt
und rasselt wieder los.
Jan hält die ganze Fahrt über die Augen geschlossen.
Als der Aufzug stehen bleibt, macht er rasch die Klappe auf. Er ist ungeduldig und weniger vorsichtig. SchlieÃlich ist es weit nach Mitternacht, und er möchte so schnell wie möglich aus dem Krankenhaus herauskommen.
Er tastet sich durch die Wäscherei und dann durch die Krankensäle. Jetzt hat er keinen Schutzengel mehr, mit dem er leuchten könnte, doch irgendwo vor sich ahnt er ein flackerndes Licht.
Und Gesang. Sind da wieder die feierlichen Psalmgesänge in den Sälen zu hören?
Er tastet sich vor und späht an der Wand entlang.
Wo sind die Papierschnipsel? In der Dunkelheit kann er sie nicht finden.
Hinein in die langen Flure. Hier wird das Licht stärker. SchlieÃlich biegt er um eine Ecke, und da sieht er eine erleuchtete Türöffnung. Dort brennen Kerzen in ein paar Holzleuchtern an den Wänden.
Jan steht in einem schmalen Raum mit einer Reihe von Holzbänken. Ganz vorn auf dem FuÃboden liegen ein paar graue Stoffsäcke. Er befindet sich in einer kleinen Kapelle, mit einem Altarbild an der Wand. Es ist ein rissiges altes Bild, das eine sanft lächelnde Frau zeigt.
Er tritt ein paar Schritte heran, betrachtet das Bild und sieht, dass auf dem Rahmen in eckigen Buchstaben PATRICIA steht.
Patricia, die Schutzheilige.
Dann dreht er sich um â und plötzlich fangen die Säcke an, sich zu bewegen.
Es sind Patienten. Drei Männer in grauen Trainingsanzügen und mit grauen Gesichtern. Ein älterer mit Hängebacken und zwei jüngere mit kahl geschorenen Köpfen. Sie starren Jan mit völlig leeren Blicken an. Vielleicht kommt das von den Medikamenten.
Der älteste zeigt auf das Altarbild. Seine Stimme klingt mechanisch: »Patricia will Ruhe und Frieden.«
»Wir auch«, sagte einer der anderen.
»Ich auch«, fügt Jan leise hinzu.
»Gehörst du hierher?«, fragt der dritte.
»Ja«, antwortet Jan. »Ich gehöre hier unten hin.«
Der ältere nickt, und da macht Jan einen Schritt an ihnen vorbei. Er ist langsam und vorsichtig, schlieÃlich hat Rettig ihn gewarnt. Aber die Patienten sitzen wieder völlig still und unbeweglich da, und Jan tritt auf den Flur hinaus.
Endlich findet er einen seiner Papierschnipsel auf dem FuÃboden. Und dann noch einen. Sie zeigen ihm den Weg, und er eilt an der weiÃen Spur entlang. Hinter sich hört er aus der Kapelle Stimmen, die Männer haben wieder begonnen, ihre Psalmen zu singen. Jan geht noch schneller zum Ende des Flurs.
Dann in den nächsten Flur hinein, um mehrere Ecken im Labyrinth, und schlieÃlich ist er wieder im Schutzraum.
Er schlägt die Stahltür hinter sich zu und geht durch den wohlbekannten Gang zurück, vorbei an den Tierbildern und die Treppe hoch. Der Ausflug ist beendet.
Bevor er die Kellertür schlieÃt, horcht er noch einmal auf Schritte aus der Unterwelt. Doch es verfolgt ihn niemand.
Er schlieÃt die Tür ab und atmet auf, doch er kann noch nicht entspannen. Erst sieht er ins Schlafzimmer der Kinder â und erschrickt zu Tode. Nur in einem der Betten ist ein Kopf zu sehen. Das ist Leo. Aber Miras Bett ist leer.
Panik ergreift Jan, er steht wie erstarrt. Du Versager. Wieder ist ein Kind weg. Weg, verschwunden ...
Dann hört er drauÃen im Badezimmer die Toilettenspülung.
Mira ist fast sechs Jahre alt, sie kann auch nachts allein aufs Klo gehen und muss keinen Erwachsenen mehr rufen.
Nun kommt sie von der Toilette und geht schlaftrunken an ihm vorbei. Sie hat nicht einmal gemerkt, dass er weg war.
»Gute Nacht, Mira«, sagt er hinter ihr her.
»Hm«, antwortet sie und legt sich wieder hin.
Wenige Minuten später scheint sie eingeschlafen zu sein, und nun wird Jan endlich ruhiger. Er schleicht noch einmal zu den Kindern hinein und holt den anderen Schutzengel. Den schlieÃt er in seinen Spind ein â wenn seine Idee funktioniert, ist das Gerät fortan seine Verbindung zum Krankenhaus. Ein Sender für geheime Botschaften.
43
»Geht es allen gut?«, fragt Marie-Louise.
»Hm, ja.«
Alle antworten gedämpft. Es ist Spätherbst, ein grauer, müder Montagmorgen in der Vorschule, düster und kalt.
Jan sagt nichts, doch niemand scheint sein Schweigen zu bemerken. Eigentlich ist seine Nachtschicht seit einer Stunde vorüber, doch trotz der Müdigkeit ist er noch geblieben, um
Weitere Kostenlose Bücher