So bitterkalt
bei der Morgenbesprechung dabei zu sein. Er will wissen, ob seine Tour durchs Krankenhaus unbemerkt geblieben ist, oder ob schon ein Bericht von Doktor HögÂsmed über ein Eindringen vorliegt. Die Pflegerin stand weit entfernt, sie kann sein Gesicht nicht deutlich gesehen haben, obwohl ...
Marie-Louise erwähnt nichts. Sie verhält sich wie immer, nur ein wenig gedämpfter. Vielleicht liegt das an der herbstlichen Dunkelheit vor dem Fenster.
Besonders schlapp wirkt Lilian. Sie hat den Kopf tief über ihre Kaffeetasse gesenkt, sodass ihr rotes Haar ihr Gesicht verbirgt, und scheint beinahe zu schlafen. Als ihre Chefin sich an sie wendet, hebt sie den Blick.
»Lilian«, beginnt Marie-Louise vorsichtig, »was hast du da?«
»Was? Wo denn?«
Lilian hebt den Kopf, und Jan sieht, dass sie noch die Schlange auf der Wange hat. Ihr Wochenend-Tattoo.
»Auf deiner Wange. Hast du da etwas aufgemalt?«
»Das hier?« Lilian wischt sich mit den Fingern übers Gesicht, und die Fingerspitzen werden leicht schwarz. »Oje, das ist meine Partybemalung. Ich habe ganz vergessen, sie abzuwaschen. Entschuldige bitte vielmals . «
Sie hustet laut und unterdrückt ein Rülpsen, und der Geruch von Alkohol verbreitet sich über den Tisch. Marie-Louise hat plötzlich eine Falte zwischen den Augenbrauen.
»Lilian, ich möchte bitte mit dir unter vier Augen sprechen.«
Lilian runzelt die Stirn. »Warum das denn?«
»Weil du nicht nüchtern bist.«
Marie-Louises Stimme ist jetzt nicht mehr sanft.
Lilian schaut ihre Chefin kurz an, dann steht sie auf und verlässt mit zusammengepressten Lippen den Tisch. Und das Zimmer. An der Tür wendet sie sich noch kurz zu den anderen um. »Ich bin so was von nicht nüchtern«, murmelt sie. »Ich habe einen Kater.«
Schnell geht Marie-Louise hinter ihr her.
»Bin gleich zurück.«
Die beiden Frauen sind offenbar in den Garderobenraum gegangen, denn jetzt scheinen die Stimmen von dort zu kommen. Das Gespräch beginnt wie eine in gedämpftem Ton abgehaltene Diskussion, wird aber schnell heftiger. Marie-Louises Stimme ist leise, aber Lilian antwortet mit lauten Fragen.
»Darf man sich nach der Arbeit nicht mal ein bisschen entspannen? Und ein bisschen runterkommen? Oder muss man sein Leben den Kindern widmen, so wie du das machst?«
»Beruhige dich, Lilian, die Kinder können dich ...«
»Ich bin ruhig, verdammt noch mal!«
Am Tisch ist es mucksmäuschenstill. Hanna und Andreas sitzen mit gesenktem Blick da, und Jan fällt nichts ein, was er sagen könnte.
Durch die Tür sind weiterhin laute Stimmen zu hören: »Du bist krank! Du solltest eine Therapie machen!«
Ist das Lilian, die da ruft, oder Marie-Louise? Jan kann es nicht unterscheiden, weil die kreischenden Stimmen zu gellend sind.
»Und du bist so verdammt perfekt! Ich habe einfach keinen Bock mehr, so zu sein wie du. Sollen die Psychos doch alleine auf ihre verdammten Kinder aufpassen!«
Das muss Lilian gewesen sein.
Marie-Louises Antwort ist kurz und kühl: »Lilian, du bist hysterisch.«
Hysterie ist keine annehmbare Diagnose mehr, hört Jan Doktor Högsmed sagen.
Andreas sieht aus, als würde ihm von dem Geschrei übel. Er schüttelt sich und steht auf.
»Ich schaue mal nach den Kindern.«
Er geht ins Spielzimmer, und Jan hört, dass er schnell die CD mit den fröhlichen Kinderliedern eingelegt hat, um das Geschrei in der Diele zu übertönen.
Doch wie meistens ist auch dieser Streit ganz abrupt zu Ende. Nach ein paar Minuten schlägt die Eingangstür laut zu. Dann folgt Stille, und schlieÃlich kommt Marie-Louise aus der Garderobe zurück in den Personalraum. Nun lächelt sie wieder.
»Lilian ist für heute nach Hause gegangen«, sagt sie. »Sie wird sich ein wenig ausruhen.«
Jan nickt stumm, aber Hanna sieht ihre Chefin an und fragt mit sanfter Stimme: »Hat sie Hilfe?«
Auf Marie-Louises Gesicht erstirbt das Lächeln.
»Hilfe?«
»Um weniger zu trinken«, erläutert Hanna gelassen.
Jan spürt die Spannung in der Luft und sieht, wie Marie-Louise die Arme verschränkt.
»Lilian ist kein Kind mehr, sie kann selbst für sich die Verantwortung übernehmen.«
»Aber der Arbeitsgeber muss auch Verantwortung zeigen«, entgegnet Hanna. Sie klingt, als würde sie ein Gesetzbuch zitieren, als sie weiterspricht:
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