So bitterkalt
seinen linken Arm in Richtung Osten. »Da, auf der anderen Seite der Bahn.«
»Dann gehen wir dahin«, sagt sie.
»Zu mir nach Hause?«
Sie schüttelt den Kopf. »Nur bis zur Bahn. Ich gehe mit dir. Wir müssen in dieselbe Richtung.«
»Gut«, sagt Jan und bemüht sich, nicht ganz so betrunken zu wirken.
Sie gehen Seite an Seite den Bürgersteig entlang, und nach einer Viertelstunde sind sie an den Gleisen angekommen, die am Zentrum vorbeiführen.
»So. Hier trennen sich unsere Wege.«
Das All über ihnen ist schwarz, die Gleise liegen verlassen da.
Jan sieht Hanna an. Ihre glänzenden Augen, das blonde Haar und das kühle Gesicht. Sie ist schön, aber er weiÃ, dass er sich nicht für sie interessiert, zumindest nicht auf die Weise. Aber er schweigt und starrt sie unverwandt an.
»Was ist das Schlimmste, was du je getan hast?«
Hanna fragt ihn das.
»Das Schlimmste?« Jan fühlt sich überrumpelt. Er kennt die Antwort. »Da muss ich überlegen. Was ist denn das Schlimmste, was du getan hast?«
»Ach, da gibt es einiges«, sagt Hanna.
»Klar. Aber erzähl von einer Sache.«
Sie zuckt mit den Schultern. »Ich war untreu und habe Freunde betrogen. Wie es halt so ist.«
»Echt?«
»Ja«, erwidert Hanna. »Mit zwanzig habe ich in einem Bootshaus mit dem Verlobten meiner besten Freundin geschlafen. Sie hat es rausgekriegt und die Verlobung gelöst. Aber wir sind irgendwie immer noch Freundinnen.«
»Irgendwie?«
»Wir schicken einander Weihnachtskarten.« Sie seufzt. »Aber das ist gerade mein Problem.«
»Was denn?«
»Dass ich Leute betrüge.« Sie blinzelt und sieht ihn an. »Ich rechne damit, betrogen zu werden, und deshalb betrüge ich zuerst.«
»Okay. Danke für die Warnung.«
Er lächelt, doch sie erwidert das Lächeln nicht. Sie schweigen erneut. Hanna ist schön, aber Jan will jetzt einfach nur noch schlafen. Er legt den Kopf in den Nacken und sieht zu den Hochhäusern hinüber, wo er wohnt. Bestimmt schlafen dort alle schon, all die braven Menschen. Wie die Tiere, wie die Bäume ...
»Und was ist mit dir, Jan?«
»Was?«
Hanna sieht ihn an. »Erinnerst du dich an das Schlimmste, was du je getan hast?«
»Ja, vielleicht ...«
Was war das noch gewesen, was er da im »Luchs« getan hat? Jan versucht nachzudenken. Aber die Häuser um ihn herum wanken, er fühlt sich immer betrunkener, und plötzlich kommen die Worte wie von selbst: »Ich habe einmal etwas Dummes getan ... in einer Tagesstätte in meiner Heimatstadt. In Nordbro.«
»Was denn? Was hast du gemacht?«
»Ich habe da als Kinderpfleger gearbeitet, es war meine erste Vertretungsstelle, und ich habe mich dumm angestellt ... Ich habe ein Kind verloren.«
Jan sieht zu Boden und glättet eine Unebenheit im Kies.
»Verloren?«
»Ja. Ich bin mit einer Gruppe Kinder in den Wald gegangen, also zusammen mit einer Kollegin, und es war eine viel zu groÃe Gruppe. Und als wir nach Hause gegangen sind, hatten wir ein Kind zu wenig. Ein Junge ist im Wald geblieben, und das war ... ja, zum Teil war es mein Fehler.«
»Wann ist das passiert?«
Jan sieht weiter zu Boden. »Der Luchs«. Er erinnert sich an alles. Er erinnert sich an die Luft im Tannenwald, die ebenso kalt war wie dieser Abend.
»Vor neun Jahren, fast genau vor neun Jahren. Es war im Oktober.«
Sag nicht noch mehr , denkt er, doch Hannas blaue Augen sehen ihn intensiv an.
»Wie hieà der Junge?«
Jan zögert. »Weià nicht mehr«, sagt er schlieÃlich.
»Und was dann?«, fragt Hanna. »Wie ist es ausgegangen?«
»Er wurde ... Es ging gut. Am Ende.« Jan seufzt und fügt hinzu: »Aber die Eltern waren natürlich total fertig, die sind zusammengebrochen.«
Hanna seufzt. »Idioten. SchlieÃlich war es ihr Kind, das abgehauen ist. Sie geben ihre Augensterne weg, und dann verlangen sie, dass wir die komplette Verantwortung übernehmen. Ist doch so, oder?«
Jan nickt, doch er bereut sein Bekenntnis schon. Warum steht er hier rum und erzählt vom »Luchs«? Er ist betrunken, ein Säufer.
»Du erzählst das doch niemandem, oder?«
Hanna sieht ihn an. »Du meinst irgendeinem Chef oder so?«
»Ja, oder ...«
»Nein, nein, Jan. Keine Sorge.«
Sie gähnt und blickt auf die Uhr.
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