So bitterkalt
»Ich muss nach Hause, muss morgen früh aufstehen.« Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und umarmt ihn kurz. Etwas Wärme in der Nacht.
»Schlaf gut, Jan. Wir sehen uns in der âºLichtungâ¹.«
»Alles klar.«
Wie eine blonde Traumgestalt sieht sie aus, als sie in Richtung Zentrum verschwindet. Alice Rami ist für Jan auch wie ein Traum, sie ist ebenso vage oder verwischt wie ein Gedicht oder ein Lied. Alle Mädchen sind Traumgestalten.
Warum hat er Hanna vom »Luchs« erzählt?
Langsam wird Jan wieder etwas klarer im Hirn, und mit der Klarheit kommt die Reue. Er schüttelt den Kopf. Mittlerweile ist er vor seiner Haustür angekommen und schlieÃt auf. Höchste Zeit zu schlafen, um dann zu arbeiten. Zwei Wochen lang hat er sich wie ein folgsamer Hund verhalten, und jetzt wird er seine Belohnung bekommen: eine eigene Nachtschicht in der Vorschule.
15
»Hier ist das Notruftelefon«, sagt Marie-Louise und zeigt auf einen grauen Hörer, der neben Jans Spind im Personalraum an der Wand hängt. »Du musst nur den Hörer abnehmen und warten, dann wählt der Apparat automatisch durch.«
»Wo ruft er an?«
»Bei der Zentralwache am Krankenhauseingang. Die ist rund um die Uhr besetzt.« Sie lächelt Jan ein wenig verlegen an und fügt hinzu: »Vielleicht ist es ja ganz angenehm zu wissen, dass nachts noch jemand in der Nähe ist. Auch wenn du natürlich allein zurechtkommst, oder?«
»Na klar.«
Jan nickt und drückt den Rücken durch, um selbstsicher zu wirken, und Marie-Louise kratzt sich ein wenig nervös am Hals.
»Selbstverständlich kannst du dort anrufen, wenn etwas passiert, aber bisher war das nie nötig.« Sie wendet sich schnell vom Notruftelefon ab, als wolle sie es vergessen. »Gut, hast du noch Fragen?«
Jan schüttelt den Kopf. Seine Chefin ist sämtliche Routinen zweimal mit ihm durchgegangen, er ist also gut vorbereitet. Und stocknüchtern. Als er am Morgen nach Bills Bar aufgewacht ist, war er ein wenig zittrig, doch jetzt geht es ihm gut.
Es ist Freitagabend in seiner zweiten Woche in der Vorschule, und seine erste Nachtschicht steht bevor. Genauer gesagt, ist es überhaupt das erste Mal, dass er nachts arbeitet. Die Schicht geht von halb zehn Uhr abends bis um acht Uhr am Samstagmorgen, aber im Personalraum steht ein Bettsofa, und Jan kann die ganze Nacht über schlafen, solange keines der drei Kinder Hilfe oder Trost braucht.
»Ich glaube, dann ist alles klar«, meint er.
»Gut«, erwidert Marie-Louise. »Hast du eigenes Bettzeug dabei?«
»Ja. Und eine Zahnbürste.«
Marie-Louise lächelt zufrieden. Sie hat schon Mantel und Wollmütze an und öffnet jetzt die Tür in die Dunkelheit dort drauÃen. »Dann wünsche ich dir eine ruhige und gute Nacht, Jan. Hanna kommt morgen früh und übernimmt, und wir beiden sehen uns dann morgen Abend.«
Sie geht, und Jan schlieÃt hinter ihr ab. Er sieht auf die Uhr. Zwanzig nach zehn. In der Vorschule alles ruhig.
Er geht in den Personalraum und richtet das schmale Bettsofa her, dann isst er in der Küche ein Brot, danach putzt er sich die Zähne.
Doch das sind alles Abendroutinen, die er tun soll  â das Problem ist nur, dass er überhaupt nicht müde ist.
Was kann er jetzt noch tun? Was will er tun?
Nach den Kindern sehen.
Leise schiebt er die Tür zum dunklen Schlafzimmer der Kinder auf und horcht auf ihre leisen Atemzüge. Matilda, Leo und Mira schlafen tief und fest in ihren Betten. Sogar Leo liegt ganz still. Marie-Louise hat gesagt, dass normalerweise keines der Kinder aufwacht, ehe sie um halb sieben Uhr morgens geweckt werden.
Normalerweise. Aber was ist normal?
Jan lässt die Tür einen Spaltbreit offen und geht zum Speisesaal auf der Rückseite der Vorschule. Ohne die Deckenbeleuchtung einzuschalten, stellt er sich ans Fenster und sieht hinaus.
Auch in Sankt Psycho ist alles dunkel. Es gibt Scheinwerfer, die den Zaun beleuchten, doch der Vorplatz ist voller Schatten.
Graue Schatten auf dem Gras, schwarze Schatten unter den Bäumen. Heute Abend steht niemand da und raucht.
An der nach Osten weisenden Schmalseite des Krankenhauses sind nur vier der hohen Fenster erleuchtet. Offenbar wird ein Flur mit weiÃen Neonröhren beleuchtet, das gleiche Licht wie unten im Keller.
Der Keller . Der Weg ins Krankenhaus â aber da unten gibt es ja auch nur
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