So bitterkalt
Leo hat es abgeknibbelt.
Jan schaut Leo ins Gesicht und fragt sich, ob er dort Unschuld oder Unglück sieht. Er weià es nicht. Er weià nur, dass in anderen Teilen der Welt die Kinder nicht mit Kuscheltieren herumlaufen, sondern mit Gewehren und Maschinenpistolen.
Wie soll er den Kindern helfen? Wie kann er einem einzigen Kind wie Leo helfen?
Du hast etwas für die Schwachen übrig, hatte der Sänger der Bohemos gemeint. Vielleicht stimmt das, aber es gibt nicht viel, was Jan für die Schwachen tun kann.
Auch an diesem Montag werden mehrere Kinder ins Besuchszimmer gebracht und wieder abgeholt. Jan hat inzwischen gelernt, wie die verschiedenen Kinder darauf reagieren, aus den Routinen der Vorschule herausgerissen zu werden. Einige, wie Mira und Matilda, werden fröhlich und kichern, wenn sie ihre Eltern treffen sollen, und ihre kurzen Beine trippeln ganz schnell die Kellertreppe hinunter. Andere, wie Fanny und Mattias, sind immer ruhig und gehen schweigend zum Fahrstuhl.
Doch es gibt auch Kinder, die angespannt sind, wenn Jan sie holt. Besonders nervös ist Josefine, die Fünfjährige, die das Buch von der Tiermacherin liebt. Sie sieht immer ein wenig verschreckt aus, wenn er sie abholt.
»Gut«, sagt sie leise, wenn er sie dann fragt, wie es ihr geht.
Er glaubt ihr nicht. Nicht wirklich.
An diesem Montag soll Josefine um 14.00 Uhr im Besuchszimmer abgegeben werden, und als Jan wie üblich fünf Minuten vorher kommt, um sie im Spielzimmer abzuholen, sitzt sie da und baut ein groÃes Haus aus Legosteinen.
»Hallo, Josefine, komm, wir fahren Fahrstuhl!«
Sie antwortet nicht, sondern baut weiter an ihrem Haus.
»Josefine«, wiederholt er. »Komm jetzt!«
Sie sieht ihn immer noch nicht an, doch sie hebt langsam ein Bein unter ihrem Kleid, dann das andere. Sie steht auf und folgt ihm ohne Protest zur Treppe.
Unterm Arm hat sie ihren rosa Elch â im Stuhlkreis am Morgen hat sie erzählt, dass er Ziggy heiÃt.
Jan betrachtet Josefine und den Elch, und wieder muss er an das Schutztier denken. Als sie in den Kellergang kommen, fasst er sich ein Herz und fragt: »Josefine, dieses Buch über die Tiermacherin, erinnerst du dich daran?«
Sie nickt.
»Woher wusstest du, dass es in der Bücherkiste ist?«
»Ich habe es da reingelegt«, sagt sie.
»Ah, du hast es also von jemandem bekommen?«
Sie nickt wieder. »Ich habe noch mehr bekommen.«
»Von wem denn?«
»Von einer Frau.«
Jetzt sind sie am Fahrstuhl angekommen, und Jan bleibt stehen. »Soll ich mit dir rauffahren, Josefine?«
Sie nickt stumm, und sie besteigen den Fahrstuhl.
»Freust du dich nicht?«, fragt er, während sie hochfahren.
Josefine schüttelt den Kopf.
»Wen wirst du treffen?«, bohrt er weiter.
»Eine Frau«, antwortet Josefine leise.
Eine Frau? Jan erinnert sich, dass Josefine immer wieder von verschiedenen Personen in die Vorschule gebracht und abgeholt worden ist. Manchmal war es eine Frau, manchmal ein älterer Mann. Er darf natürlich keine Fragen über Josefines Angehörige stellen, dennoch beugt er sich zu ihr herunter und sagt: »Du triffst deine Mama, nicht wahr?«
Josefine nickt.
Der Fahrstuhl hält an. Es ist das erste Mal, dass Jan mit einem Kind ins Besuchszimmer hochgefahren ist. Er späht vorsichtig durch das Fenster in der Fahrstuhltür und sieht einen hellen und sauberen Raum mit einem groÃen StoffÂsofa, leicht vertrockneten Topfpalmen und einem Tisch mit ein paar Kinderbüchern. Soweit Jan es überblicken kann, gibt es keine Ãberwachungskameras.
Es ist niemand im Raum, doch an dessen Ende ist eine verschlossene Tür, die durch ein Codeschloss gesichert ist.
»Komm, Josefine.«
Als Jan ihr die Tür aufhält, macht sie einen vorsichtigen Schritt ins Zimmer, dann dreht sie sich um und fragt leise: »Bleibst du hier?«
Er schüttelt den Kopf. »Das darf ich nicht, Josefine. Leider. Du wirst deine Mama ohne mich treffen.«
Nun schüttelt Josefine den Kopf, und Jan weià nicht, was er sagen soll. Das Besuchszimmer ist immer noch leer. Er bleibt an der Fahrstuhltür stehen, aber er möchte Josefine nicht allein lassen.
Da ist ein metallisches Surren auf der anderen Seite des Zimmers zu hören. Die Tür wird aufgezogen, und ein Mann in hellrotem Pflegerkittel erscheint. Es ist nicht Lars Rettig, dieser Mann ist jünger. Er ist auch kleiner und
Weitere Kostenlose Bücher