So bitterkalt
Küche.
»Was macht die Polizei hier?«, fragt er.
»Ich weià es nicht. In der Klinik scheint irgendetwas passiert zu sein.«
Sie klingt unbekümmert, aber Jan sieht sie ernst an.
»Ein Ausbruch?«
»Davon gehen wir jetzt mal nicht aus«, erwidert Marie-Louise. »Aber wir werden es sicherlich morgen im Bericht nachlesen können.«
Sie meint Doktor Högsmeds Wochenbericht. Der wird jeden Mittwoch an die Vorschule geschickt, und Marie-Louise druckt ihn aus. Bisher war es keine sonderlich spannende Lektüre.
Jan wartet, doch niemand klopft fest und entschlossen an die Tür zur Vorschule. Und als er das nächste Mal aus dem Fenster sieht, sind die Polizisten verschwunden.
Er entspannt sich und vergisst den Besuch â bis es um zehn Uhr Zeit ist, den kleinen Felix zum Besuchsraum zu begleiten.
Da kommt Marie-Louise zu ihm ins Spielzimmer und sagt leise: »Heute wird niemand gebracht, Jan. Die Besuche sind eingestellt.«
»Ach, ehrlich?« Auch Jan senkt automatisch die Stimme. »Warum denn das?«
»Oben im Krankenhaus hat es einen Todesfall gegeben.«
»Einen Todesfall?«
Marie-Louise nickt und spricht jetzt noch leiser: »Heute Nacht ist ein Patient gestorben.«
»Wie das?«
»Weià nicht, aber offensichtlich kam es unerwartet.«
Jan fragt nicht weiter. Er spielt mit den Kindern Fangen und Verstecken, doch er ist mit den Gedanken woanders. Die ganze Zeit muss er an die Briefe denken, die er gestern überbracht hat. Waren es Liebesbriefe oder vielleicht Drohbriefe?
Wo wohnt Lars Rettig? Wie lautet seine Telefonnummer? Jan kann ihn im Telefonbuch nicht finden, und so fällt ihm nur ein einziger Weg ein, ihn zu treffen, und deshalb geht er am Abend nach der Arbeit in die Stadt hinunter. Erst guckt er bei Bills Bar rein, aber die Bohemos spielen heute Abend nicht.
Doch Jan gibt nicht auf, er geht weiter zum Probenraum. Die Tür ist geschlossen, doch von drinnen kann er Gitarrenmusik hören und krachende Trommelwirbel, und mit einem Mal fühlt er sich vergessen und ausgeschlossen.
Er klopft, aber nichts geschieht.
Dann schlägt er mit der flachen Hand gegen die Tür, doch die Musik spielt weiter. SchlieÃlich zieht er die Tür auf und streckt den Kopf in den Raum.
Die Musik verstummt. Erst die Gitarren, dann das Schlagzeug. Vier Köpfe drehen sich nach ihm um.
»Hallo, Jan.«
Rettig ist es, der ihn nach einem kurzen Schweigen begrüÃt.
»Hallo, Lars. Kann ich einen Moment mit dir reden?«
»Klar. Komm rein.«
»Ich meine, unter vier Augen?«
Die Musiker hinter Rettig haben in ihrer Bewegung inneÂgehalten, jetzt stehen sie da, die Instrumente in den Händen, und starren Jan an. Der Schlagzeuger Carl ist ein neues Gesicht, aber Jan meint, ihn schon einmal irgendwo gesehen zu haben.
»Okay«, sagt Rettig, »warte kurz, ich komme gleich.«
Die Viererbande, denkt Jan. Vielleicht sind alle Mitglieder der Bohemos Pfleger in Sankt Psycho?
Klar, jetzt erkennt er Carl wieder. Die Bulldogge mit dem breiten Kiefer. Er hat die kleine Josefine im Besuchszimmer übernommen. Mit Tränengas am Gürtel.
Carl starrt feindselig zur Tür. Jan zieht sich zurück, aber der Pfleger hat ihn sicherlich schon erkannt.
Rettig legt ihm die Hand auf die Schulter. »Lange kann ich aber nicht reden, Jan, nur ein paar Minuten. Komm, wir gehen raus.«
Er geht zehn Meter auf den menschenleeren Bürgersteig hinaus, ehe er stehen bleibt.
»Okay, schieà los.«
Es fällt Jan schwer, andere Menschen zu konfrontieren und mit dem Rücken an die Wand zu stellen, aber er konzentriert sich.
»Wer ist heute Nacht gestorben?«, fragt er schlieÃlich.
Rettig sieht ihn nur verdutzt an. »Wer gestorben ist?«
»Wir haben heute Morgen erfahren, dass im Sankt Patricia jemand gestorben ist.«
Rettig zögert, dann nickt er. »Einer der Patienten.«
»Mann oder Frau?«, fragt Jan.
»Mann.«
»Ein Briefschreiber?«
Rettig sieht sich um. Dann beugt er sich vor. »Sprich nicht über die Briefe.« Er lächelt Jan an, aber das Lächeln ist angespannt.
Jan fragt sich, ob Rettig weiÃ, dass er einen zusätzlichen Brief in das Kuvert geschmuggelt hat, einen Gruà an eine Patientin, von der er glaubt, sie sei Alice Rami. Die Gefahr besteht.
»Ich will einfach nur wissen, was die Briefaktion soll«, erklärt er. »Warum ist das so
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