So bitterkalt
dass er eine Hand auf der Schulter spürt und eine strenge Stimme ihn bittet, mal für ein kleines Gespräch mitzukommen. Ein Verhör oben im Krankenhaus mit der Tag-Sec.
Doch es geschieht nichts. Als er nach einer Weile wieder in den Personalraum schaut, ist er leer. Högsmed ist gegangen.
Da endlich kann Jan sich ein wenig entspannen. Wahrscheinlich sollte er heute Abend nicht hochfahren und den Umschlag überbringen, was, wenn der Doktor noch einmal in der Vorschule vorbeischaut? Aber im Spind will er ihn auch nicht haben.
Die Zeit vergeht langsam, aber irgendwann wird es doch Abend. Die Kinder werden abgeholt, das Personal geht nach Hause. Jan wärmt für die drei, die noch da sind, Dillfleisch und Kartoffeln auf, liest ihnen vor und bringt sie ins Bett.
Da ist es Viertel vor neun. Rettig hat ihm geraten, nicht so früh ins Krankenhaus hinüberzugehen, doch Jan ist ungeduldig. Er hat noch eine knappe Stunde, ehe Andreas kommt, um ihn abzulösen, das reicht.
Er wartet eine Weile, sieht ein letztes Mal zu den schlafenden Kindern hinein und geht dann mit dem SchutzÂengel am Gürtel und dem Kuvert unter dem Pullover versteckt in den Keller.
Schnell, ein Briefträger muss schnell arbeiten.
Der Fahrstuhl wartet im Keller auf ihn. Er holt tief Luft und fährt zum Besuchszimmer hinauf. Alles ist still, der Raum ist menschenleer, das Licht ist aus.
Schnell schleicht Jan zum Sofa, hebt das Kissen und erschrickt â da liegt bereits ein Umschlag.
Doch es ist nicht dasselbe Kuvert, das er vor ein paar Tagen hier deponiert hat. Es ist gröÃer und dicker, und auf der Vorderseite steht mit ungleichmäÃigen Buchstaben:
AUFMACHEN! ZUR POST BRINGEN!
Eine Antwort von Sankt Psycho. Jan starrt auf den Umschlag. Dann nimmt er ihn schnell, schiebt ihn unter seinen Pullover und legt das groÃe gelbe Kuvert unter das Sitzkissen.
Als Jan in die Vorschule zurückkommt, ist dort immer noch alles ruhig.
Eine halbe Stunde später geht die Eingangstür auf. Jan zuckt zusammen, aber es ist nur sein Kollege Andreas, der hereinkommt, gelassen und fröhlich wie immer. Andreas ist souverän und scheinbar völlig ohne Sorgen.
»Hallo, Jan. Alles in Ordnung?«
»Ja, wunderbar. Unsere kleinen Freunde schlafen.«
Jan lächelt und zieht seine Jacke an. Dann schlieÃt er den Spind auf und holt den Rucksack heraus, in dem er das Kuvert versteckt hat. Er ist erwartungsvoll wie am Weihnachtsabend.
»Machâs gut, Andreas. Bis morgen.«
Als Jan nach Hause kommt, muss er immer noch an Doktor Högsmed denken. Er schlieÃt die Tür hinter sich ab und zieht in der Küche das Rollo runter. Dann holt er den Umschlag aus dem Rucksack und macht ihn auf.
Siebenundvierzig Antwortbriefe aus dem Krankenhaus fallen heraus â ein ganzes Kartenspiel aus kleinen und groÃen Briefen, alle sind ordentlich frankiert und bis auf zwei, von denen einer nach Hamburg und einer nach Bahia in Brasilien geschickt werden soll, an verschiedene Menschen in Schweden adressiert. Ein Absender findet sich auf keinem der Briefe.
Möglicherweise ist es Ivan Rössel. Er scheint viele Briefe zu bekommen, vielleicht antwortet er denen, die ihm schreiben.
Hat Rami an jemanden geschrieben? Auf alle Fälle wartet oben im Besuchszimmer ein Brief von ihm an sie.
In dieser Nacht kehrt Jan zu demselben warmen Traum aus der Nacht zuvor zurück: Er ist mit Alice Rami zusammen. Jan und sie wohnen auf dem Land, auf einem Bauernhof völlig ohne Zäune und Gatter. Sie gehen mit groÃen Schritten auf einem sich dahinschlängelnden Kiesweg, sie sind frei und furchtlos, alle Missgriffe des Lebens liegen weit hinter ihnen. Rami hat einen groÃen braunen Hund an einer Leine, einen Bernhardiner oder einen Rottweiler. Das ist natürlich einen Wachhund, aber er ist freundlich, und Rami hat ihn vollkommen unter Kontrolle.
Luchs
Um zwanzig nach vier kam Sigrid, die Erzieherin, zum »Luchs« herüber, Jan konnte sie schon von Weitem sehen. Sie waren nun seit über einer halben Stunde aus dem Wald zurück, und die Tagesstätte schloss allmählich ihre Pforten.
Alles war gut gegangen auf dem Rückweg aus dem Wald, abgesehen davon, dass sie mit nur sechzehn Kindern zurückgingen und nicht mit siebzehn. Doch Jan hatte nicht darauf hingewiesen, und weder Sigrid noch eines der Kinder hatten gemerkt, dass William fehlte.
Er selbst konnte kaum an etwas anderes
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