So bitterkalt
Sätze, so ordentlich und lesbar wie möglich:
Ich will frei sein, ich will ein Sonnenstrahl sein, an dem man frisch gewaschene Betttücher aufhängen kann. Ich bin eine Maus, die sich im Wald versteckt, ich bin ein Leuchtturmwärter in einem Steinhaus, ich bin ein Hirte, der sich um verirrte Kinder kümmert.
Ich heiÃe Jan.
Vor fünfzehn Jahren war ich dein Nachbar.
Erinnerst du dich an mich?
Seither trägt Jan immer langärmelige Pullover und Hemden. Jetzt zieht er seinen rechten Ãrmel hoch und betrachtet den feinen rosa Strich, der den Adern folgt. Sein besonderes Merkmal, seine Erinnerung an die Schulzeit.
Er hätte genauso gut den linken Ãrmel hochziehen können, denn die Rasierklinge hat an beiden Unterarmen lange Narben hinterlassen.
Die Klapse
Als Jan aufwachte, hörte er traurige Musik. Getragene Gitarrenakkorde in Moll. Sie schienen direkt von der anderen Seite der Wand zu kommen, und sie hielten an. Dort saà jemand und spielte wieder und wieder dieselbe schlichte Akkordfolge.
Er selbst lag in einem Bett mit rauer Bettwäsche. Er schlug die Augen auf und sah breite Gestelle aus rostfreiem Stahl.
Ein Krankenhausbett.
Die Wände über dem Bett waren hoch und weiÃ.
Es war ein Krankenzimmer.
Er lauschte der Gitarrenmusik und konnte sich nicht bewegen. Seine Beine und Arme waren völlig kraftlos. In seinem Bauch und im Kopf pochte es.
Sein Hals erinnerte sich an Schläuche, weiche Schläuche, die sich hinunterschlängelten, um die Flüssigkeit aus den Eingeweiden aufzusaugen. Der Geschmack von Galle, der Geruch von saurer Milch.
Magen auspumpen, so funktioniert das also. Es war schrecklich. Sein geleerter Magen schmerzte und fühlte sich wie ein Ballon an, der sich bis zum Hals hinaufdrückte. Er wollte sich übergeben, konnte aber nicht.
Er hörte Stimmen, die sich näherten, doch er schloss die Augen und schlief wieder ein.
Als Jan das nächste Mal erwachte, war die Musik verstummt. Erneut schloss er die Augen, und als er sie wieder öffnete, stand ein groÃer Mann mit langen Haaren und braunem Bart über ihn gebeugt. Er sah aus wie Jesus in einem T-Shirt mit einer gelben Smiley-Figur auf der Brust.
»Wie geht es dir, Jan?« Seine Stimme hallte. »Ich heiÃe Jörgen. Hörst du mich?«
»Jörgen«, flüsterte Jan.
»Genau, Jörgen. Ich bin hier Pfleger. Geht es dir gut?«
Es ging ihm nicht gut, aber er nickte. Pfleger, dachte er. Tierpfleger oder was für einer?
»Deine Eltern sind nach Hause gefahren«, sagte der Mann. »Aber sie kommen wieder. Erinnerst du dich an ihre Namen?«
Jan schwieg, er dachte nach. Das war komisch. Er erinnerte sich an die leiernden Stimmen der Eltern, wusste aber keine Namen.
»Nicht?«, fragte Jörgen. »Erinnerst du dich denn, wer du selbst bist? Wie heiÃt du?«
»Jan ... Hauger.«
»Gut, Jan. Möchtest du jetzt duschen?«
Jan erstarrte im Bett.
Nicht duschen . Er schüttelte den Kopf.
»Okay. Dann schlaf weiter, Jan.«
Jörgen glitt rückwärts vom Bett weg und aus dem vibrierenden Raum.
Die Zeit verging. Jan hörte ein klickendes Geräusch. Als er den Kopf hob, sah er, dass die Tür zu seinem Zimmer nur angelehnt war. Da drauÃen bewegte sich etwas. Ein Tier? Nein. Ein helles Gesicht sah zu ihm herein, ein groÃes schlankes Mädchen in seinem Alter, mit kreideweiÃem Haar und braunen Augen. Sie stand da und sah ihn an. Nicht freundlich, nicht gemein.
Jan schluckte, sein Mund war trocken. Er versuchte, den Kopf zu heben, und flüsterte: »Wo bin ich?«
»In der Klapse«, antwortete das Mädchen.
»Im Knast?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Klapse«, wiederholte es.
Jan sagte nichts mehr. Das letzte Wort verstand er nicht.
Das Mädchen schwieg ebenfalls und sah ihn weiter unverwandt an, doch dann streckte es plötzlich die Arme ins Zimmer und zielte mit einer kleinen schwarzen Kiste auf ihn. Es knallte, und er bekam einen Blitz ins Gesicht.
Er blinzelte.
»Was tust du?«
»Warte kurz«, erwiderte sie.
Dann zog sie ein Quadrat aus der Kamera, machte ein paar Schritte ins Zimmer hinein und warf es auf seine Bettdecke.
»Hier bist du«, sagte sie leise.
Jan nahm das Quadrat entgegen und sah, wie darauf langsam ein Bild Form annahm. Es war ein sich selbst entwickelndes Foto, und jetzt konnte Jan ein bleiches Gesicht und einen schmalen
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