Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So bitterkalt

So bitterkalt

Titel: So bitterkalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johan Theorin
Vom Netzwerk:
waren.

27
    Vier Tage muss Jan warten, bis Rettig ihm ein neues Kuvert liefert. Doch vorher wird Jan den nächtlichen Besucher der Vorschule treffen.
    In diesen Oktobertagen scheint die Sonne, und so scheint das Leben von Tag zu Tag besser auszusehen, und die Schatten von der Klapse und dem »Luchs« werden immer schwächer. Jan hält sich selbst inzwischen für einen absolut zuverlässigen Mitarbeiter, der sowohl bei den Kindern als auch bei den Kollegen beliebt ist. Die Briefe, die er nach Sankt Psycho hineinschmuggelt, ändern nichts an der Tatsache, dass er ein guter Erzieher ist.
    Schließlich mag er die Kinder. Vielleicht sind es die Schuldgefühle oder die Angst, entdeckt zu werden, die ihn so gut arbeiten lassen, im Einsatz für »das Wohlbe­finden und die Sicherheit der Kinder, für den Aufbau einer festen Grundlage für ihr lebenslanges Lernen und ihre Entwicklung zu verantwortungsbewussten und ethisch reflektierenden Mitbürgern« und all die anderen schönen Dinge, die er in seiner Berufsausbildung lernen konnte.
    Seine Kollegen schleichen sich manchmal aus der »Lichtung«, um ein bisschen frische Luft zu schnappen oder sich eine Rauchpause zu gönnen, aber Jan bleibt die ganze Zeit bei den Kindern. Er scherzt mit ihnen, hört ihnen zu, beruhigt sie, wischt Tränen ab und klärt all ihre kleinen Streitigkeiten. Besonders viel Zeit widmet er dem kleinen Leo, um sein Vertrauen zu gewinnen.
    Manchmal, ganz ins Spiel versunken, erkennt er keinen Unterschied zwischen den Kindern und sich selbst. Die Jahre fallen von ihm ab, dann ist er fünf oder sechs und kann ganz in der Gegenwart leben. Keine Forderungen, keine Zukunftssorgen und keine Angst vor der Einsamkeit. Nur fröhliche Rufe und ein warmes Gefühl der Hingabe. Das Leben findet statt, hier und jetzt .
    Doch manchmal erhascht sein Blick den Schatten von jemandem, der sich hinter dem Klinikzaun bewegt, und dann hält er im Spiel inne und denkt an Rami.
    Rami als Tiermacherin, Rami als Tier in einem Käfig.
    In einem Tierpark leben die Raubtiere eingesperrt zusammen mit den Pflanzenfressern. Doch der Unterschied zwischen den gefährlichen und den harmlosen Tieren ist immer schwer auszumachen.
    Das Eichhörnchen will frei sein, hat Rami geschrieben. Und er selbst möchte nach Sankt Psycho hineinkommen, um sie zu treffen. Er will mit ihr reden, so wie früher.
    Â»Jan!«, rufen die Kinder. »Sieh mal hier, Jan!«
    Und schon hängt ein Kind an seinem Arm, und er ist wieder in der Vorschule.
    Es wird Nachmittag, und die Sonne verschwindet hinter den kahlen Bäumen im Westen. Der Herbsthimmel wird schnell dunkel. Jan hat noch eine letzte Abendschicht vor sich, dann kommen vier freie Tage.
    Er bringt die Kinder ins Bett und wird um halb zehn abgelöst werden. Als er kurz zuvor zufällig einen Blick aus dem Fenster auf die Straße vor der Vorschule wirft, sieht er dort eine Frau und einen Mann nebeneinander hergehen.
    Er erkennt Lilian, aber wer ist der Mann? Sie gehen so dicht beieinander, dass sie wie ein Pärchen aussehen, aber Lilian ist doch geschieden, oder?
    Jan sieht, wie der Mann sie vor der Vorschule umarmt, dann wendet er sich um und verschwindet in der Dunkelheit.
    Trotz der Umarmung wirkt Lilian nicht fröhlich, als sie durch die Tür kommt, sie hat eine Falte auf der Stirn. Jan selbst ist ruhig, er hat sich an diesem Abend ausschließlich den Kindern gewidmet.
    Â»Ist es kalt draußen?«, fragt er.
    Â»Was?«, sagt Lilian zerstreut. »Ja, doch, ziemlich kalt. Bald ist Winter.«
    Â»Typisch«, meint er. »Jetzt, wo ich frei habe. Ich will wegfahren.«
    Â»Gut.«
    Lilian fragt nicht, wohin er fährt, sie wirkt gestresst. Sie hängt ihren Mantel an die Garderobe, sieht müde auf die Uhr und dann zu Jan.
    Â»Ich bin ein bisschen früh dran«, sagt sie, »aber du kannst ruhig schon gehen.«
    Er sieht sie an. »Ich kann schon noch etwas bleiben.«
    Â»Nein, geh du nur«, erwidert sie leise. »Ich komme zurecht.«
    Lilian eilt an ihm vorbei in die Küche. Die Falte auf ihrer Stirn ist immer noch zu sehen, und sie hat überhaupt nicht nach den Kindern gefragt.
    Jan blickt ihr lange nach.
    Â»Na gut«, ruft er schließlich hinter ihr her, »dann gehe ich jetzt.«
    Er zieht seine Jacke und Schuhe an und nimmt laut klappernd seine Tasche aus dem Spind, damit Lilian ihn auch hört. Es ist beinahe

Weitere Kostenlose Bücher