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So bitterkalt

So bitterkalt

Titel: So bitterkalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johan Theorin
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wieder und wieder, aber inzwischen ging es schneller. Und sie hatte angefangen, dazu zu singen.
    Jan drehte den Kopf zur Wand und lauschte. Sie sang auf Englisch, aber er verstand das meiste. Rami sang in gedämpftem Ton von einem Haus in New Orleans, das »The Rising Sun« genannt wurde und das Leben vieler junger Mädchen zerstört habe. Sie sang wieder und wieder dieselben Zeilen, und dann gestand sie, dass sie eines der Mädchen sei.
    Je länger Jan lauschte, desto größer wurde seine Lust, zu dem Mädchen hinüberzugehen. Er wollte nicht nur zuhören, sondern auch zusehen, wenn sie sang.
    Ruckartig setzte er sich auf und holte den Holzstuhl heran, der am Schreibtisch stand. Er begann, im Takt mit den Gitarrenakkorden auf der Sitzfläche zu trommeln.
    Im Schulorchester war er Schlagzeuger gewesen, und natürlich hatte ihn kein Junge in der ganzen Schule je gebeten, in seiner Rockband mitzuspielen, aber er hatte immerhin zwei Jahre lang schwedische und deutsche Marschmusik getrommelt. Das hatte richtig Spaß gemacht.
    Jan hatte keinen Grund zu leben, aber er war gut darin, den Takt zu halten.
    Er trommelte immer lauter auf dem Stuhl und war irgendwann so in Schwung, dass er gar nicht hörte, dass die Gitarre im Nebenzimmer verstummt war. Voller Energie trommelte er unablässig weiter, bis plötzlich die Tür aufging. Im Türrahmen stand das Mädchen mit der Gitarre.
    Â»Was tust du?«
    Sie klang nicht wütend, sondern nur neugierig. Jan erstarrte, die Hände in der Luft über dem Stuhlsitz.
    Â»Ich trommele.«
    Â»Kannst du das?«
    Â»Ein bisschen.«
    Das Mädchen sah ihn unverwandt und nachdenklich an. Sie war groß und mager, irgendwie süß, aber völlig ohne Rundungen.
    Â»Komm mal mit.«
    Das Mädchen machte kehrt, als ob vollkommen klar sei, dass Jan ihr folgen würde. Und das tat er auch.
    Auf dem leeren Flur gingen sie nach links, und das Mädchen öffnete eine Tür, auf der MATERIAL stand.
    Â»Hier kann man sich Sachen sozusagen ausleihen«, erklärte sie.
    Die Materialkammer war klein, aber voller Regale, und dort gab es alles Mögliche. In ein paar Regalen standen Bücher, in anderen lagen Tischtennisschläger und Schachteln mit Schach- und Gesellschaftsspielen.
    Jan sah, dass auch Papier und Stifte und Notizbücher bereitlagen. Wahrscheinlich hatte Jörgen das Zeichenpapier für ihn von dort geholt.
    Â»Schreibst du?«, fragte das Mädchen.
    Â»Manchmal. Und ich zeichne.«
    Â»Ich auch«, erwiderte das Mädchen und nahm ein dickes, schwarzes Notizbuch aus dem Regal. »Nimm das hier, dann kannst du Tagebuch schreiben.«
    Â»Danke.«
    Jan hatte noch nie über sich selbst geschrieben, aber er nahm das Buch trotzdem.
    In ein paar Regalfächern gab es Musikinstrumente, und das Mädchen suchte in ihnen herum.
    Â»Hier habe ich die Yamaha gefunden.«
    Â»Wen?«
    Â»Meine Gitarre.«
    Auf einem unteren Regalbrett stand ein Schlagzeug. Es war winzig klein und bestand nur aus einer etwas mitgenommenen Trommel und einem Becken, aber das Mädchen ging hin und hob die Sachen heraus.
    Â»Das kannst du nehmen.«
    Sie ergriff die Trommel, Jan das Becken und die Trommelschlägel und folgte dem Mädchen in ihr Zimmer.
    Â»Komm rein.«
    Jan zögerte kurz, ging dann aber hinein. Verwundert sah er sich um. Dieses Zimmer war so pechschwarz wie seines weiß. Es erinnerte an ein Studio. Das Mädchen hatte die Wände mit großen schwarzen Tüchern verhängt.
    Sie setzte sich mit der Gitarre aufs Bett.
    Â»Ich spiele, und du trommelst dazu, okay?«
    Â»Okay.«
    Â»Fang du an.«
    Jan nahm die Trommelschlägel und begann zu trommeln. Er fing mit einem ruhigen Viervierteltakt auf der Trommel an und spielte beim ersten und beim dritten Schlag das Becken dazu. Nach einer Weile kam er richtig in Fahrt, es klang ziemlich gut.
    Er sah, dass das Mädchen im Takt zur Musik wippte. Sie hörte zu – das war ein Vertrauensbeweis für ihn. So etwas war er nicht gewohnt. Und dann fing das Mädchen mit ihrer leicht heiseren Stimme an zu singen:
    Es steht ein Haus in NyÃ¥ker,
    das Sonnenaufgang heißt,
    es hat so viele Leben zerstört
    und eins davon ist meins  ...
    Das war offensichtlich der einzige Vers, den sie auf Schwedisch übersetzt hatte, denn sie sang ihn zweimal und verstummte dann. Jan hörte gleichzeitig auf zu trommeln, und es wurde

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