So bitterkalt
die Scheibe, und Jan kann sehen, dass das Gesicht auf der Karte dem des Wachmanns ähnelt. Seine Stimme ist hart und ungeduldig, als er ruft: »Jetzt machen Sie schon auf!«
Jan muss ihm vertrauen, er öffnet das Fenster und lässt die Kälte herein.
»Was ist passiert?«, fragt er.
»Uns fehlt ein Vier-Vierer.«
Jan hat keine Ahnung, was dieser Code bedeutet, aber er schüttelt dennoch den Kopf. »Ich habe nichts gesehen.«
»Schlagen Sie Alarm, wenn Sie was sehen?«
Der Wachmann wartet die Antwort nicht ab, sondern tritt vom Fenster zurück und verschwindet in der Dunkelheit.
Jan schlieÃt das Fenster wieder, und es wird still in der Küche.
Beinahe still, denn die Uhr tickt sich immer noch gen Mitternacht, und er muss den Umschlag ins Krankenhaus bringen. Er sollte damit aufhören, aber er kann nicht.
Er sieht nach den zwei Kindern und setzt sich wieder in die Küche. Sitzt und wartet, dass etwas passiert.
Ein Ausbruch. Ist es wirklich ein Ausbruch?
Was soll er tun?
Hierbleiben. Hier gehört er hin, zu den schlafenden Kindern. Aber natürlich steht noch ein letzter Besuch in Sankt Psycho aus. Jetzt, wo der Wachdienst um das Krankenhaus herum unterwegs ist, muss er besonders vorsichtig sein, aber er muss es tun. Er hat Rami in seinem Brief zu wichtige Dinge geschrieben, als dass er ihn ihr vorenthalten könnte.
So sollte es nicht sein, so dunkel und einsam. Aber so ist es nun einmal, und als es zehn Minuten vor Mitternacht ist, steht er auf und sieht ein letztes Mal nach den Kindern. Dann geht er und holt die Magnetkarte.
Ein letzter Botengang. Er hängt den einen Schutzengel ins Zimmer der Kinder, den anderen an seinen Gürtel und geht zur Kellertür. Nach der Zurechtweisung durch Marie-Louise ist die Tür immer geschlossen gehalten worden, aber jetzt macht er sie auf.
Alles ist dunkel und still, und Jan läuft schnell über die Treppe und durch den Kellergang. Was das Ãberbringen der Briefe angeht, ist er sehr effektiv geworden. Diesmal braucht er nur fünf Minuten, um in den Besuchsraum hinauf- und wieder hinunterzufahren. Sein Herz pocht laut, doch niemand stört ihn, und der Schutzengel an seinem Gürtel bleibt still. Fünf Minuten nach Mitternacht ist er, als wäre nichts gewesen, wieder in der Vorschule.
Zeit zu schlafen. Er macht das Bettsofa zurecht, legt sich hin, denkt kurz an den Brief an Rami, und dann schlieÃt er die Augen.
Ein rasselndes Geräusch weckt ihn.
Jan öffnet die Augen, aber alles ist dunkel. Hat er geschlafen? Doch, wahrscheinlich, denn jetzt zeigt die Uhr neben dem Bett 00:56.
DrauÃen vor dem Fenster rasselt es wieder leise. Es quietscht und klappert.
Das ist die Einzäunung. Jemand klettert am Zaun hoch.
Jan setzt sich auf und blinzelt in die Dunkelheit. Er zieht seinen Pullover über und die Hose an. Dann geht er ans Fenster, schiebt die Gardine einen kleinen Spalt auf und späht hinaus.
Es ist nichts zu sehen.
Doch etwas stimmt nicht, und zunächst weià er nicht, was, doch dann begreift er, dass er es gewohnt ist, Licht vor dem Fenster zu haben. Doch der am nächsten stehende Scheinwerfer ist ausgeschaltet.
Jan späht durch das Fenster, und jetzt erkennt er, dass sich da etwas bewegt. Er lehnt sich näher an die Scheibe und starrt hinaus.
Es ist der Zaun, der da rasselt. Und dahinter, auf der anderen Seite, kann Jan einen mannsgroÃen Schatten erkennen. Jemand versucht, daran hochzuklettern.
Die Eingangstür ist abgeschlossen, das weià er.
Nicht rausgehen , denkt er. Nicht die Kinder allein lassen.
Und doch geht er in die Garderobe und zieht Schuhe und Jacke an.
Der Wind drauÃen auf dem Hof hat zugenommen und die Kälte ebenso. Jan hält den Kopf gesenkt und bewegt sich rasch in Richtung der Stelle am Zaun, aus der das Rasseln kommt.
Als er am Gartentor der »Lichtung« steht und zum Zaun hinüberschaut, sind die Geräusche verstummt.
Doch der Schatten ist noch dort oben, und Jan sieht, wie sich der Schatten nach der Oberkante des Sicherheitszauns streckt, wo der elektrische Stacheldrahtverhau beginnt â und dann den Halt verliert. Er fällt in einem flachen Bogen rückwärts und landet mit einem dumpfen Schlag in der Dunkelheit.
Jan öffnet das Gartentor und läuft in Richtung Krankenhaus. Als er den Zaun fast erreicht hat, flammt plötzlich ein Licht auf, das ihm direkt ins Gesicht strahlt.
Es ist eine
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