So bitterkalt
Uhr.
Es war erst zehn vor sieben â das bedeutete, dass noch dreiÃig Stunden verstreichen müssten, ehe er William rauslassen würde. Eine lange Zeit.
Eine Viertelstunde später kam er beim »Luchs« an. Es war niemand da, aber er hatte einen eigenen Schlüssel und konnte ins Haus gehen.
Es war ganz still, kein Kinderlachen hallte in den Räumen wider.
Er setzte Kaffee auf, lieà sich in einen Sessel sinken und schloss die Augen. Vor seinem inneren Auge sah er Williams Hand, die suchend nach etwas tastete, woran er sich festhalten könnte.
Kurz vor halb acht ging die Eingangstür auf. Nina, seine Chefin, kam herein, und sie sahen einander nur müde an. Ninas Augen waren grau vor Sorge.
»Heute haben wir keine Kinder hier«, sagte sie leise. »Wir haben sie in den anderen Gruppen untergebracht.«
»Gut.«
»Hast du irgendwas gehört?«, fragte Nina. »Was Neues?«
Er sah sie an und öffnete den Mund. Mit einem Mal wollte er seiner Chefin alles erzählen. Er wollte erzählen, dass William in einem versteckten Bunker tief im Wald eingeschlossen war, dass er sicher etwas ängstlich, aber völlig unbeschadet war, weil Jan alles so gründlich geplant hatte. Und das Wichtigste von allem: Er wollte erzählen, warum das hier alles passierte. Denn eigentlich ging es ja gar nicht um William.
Es ging um Alice Rami.
»Es gibt da etwas, das ich dir sagen muss ...«, begann er, aber da klapperte es plötzlich in der Diele. Die Eingangstür wurde geöffnet, und ein Polizist in voller Uniform betrat den »Luchs«. Es war derselbe Mann, der Jan am Abend zuvor von einem schlimmen Fund auf einem Waldweg erzählt hatte.
Jan erstarrte und richtete sich auf. Jetzt war er wieder ein zuverlässiger Erzieher. Das war eine schwierige Rolle, doch er spielte sie gut.
Das Handy des Polizisten klingelte, und er ging damit ins Nebenzimmer.
Jan stand auf und sah seine Chefin an.
»Ich wollte mich jetzt stellen ... also, zur Verfügung stellen, für den Suchtrupp«, stotterte er.
Nina nickte nur schweigend und fragte nie nach, was er eigentlich hatte erzählen wollen.
Allmählich ging die Sonne über dem »Luchs« auf. Ein blau-weiÃer Mannschaftsbus der Polizei rollte vor die Tagesstätte und wurde als eine Art Sammelzentrale drauÃen auf dem Bürgersteig aufgestellt. Immer mehr Polizisten, Soldaten und Zivilpersonen kamen in die Tagesstätte, erhielten einen Kaffee und gingen dann weiter in den Wald. Auch Jan ging dorthin.
Um Viertel nach neun war die Suchkette aufgestellt. Polizisten, Leute von der Bürgerwehr und Freiwillige in einer langen Reihe. Nach dem Mittagessen würden noch zwei Suchhunde dazustoÃen.
Irgendwo in der Mitte stand Jan und hörte einem Polizisten zu, der die Suchaktion nach William erläuterte.
»Wir gehen ganz ruhig und methodisch vor.«
Felsspalten, dichte Baumbestände und Wasserstellen â alles sollte durchsucht werden.
Jan begriff, dass die Kette in breiter Front rund um den See anfangen würde. Wann würden sie auf der anderen Seite des Hügels, wo der Bunker lag, suchen?
Die Stimmung in der Kette war gedämpft, als sie langsam den Wald durchschritten.
Um halb zwölf ertönte plötzlich eine Trillerpfeife. Offensichtlich war die Suche abgebrochen worden, und sogleich begann es im Wald zu schwirren. War der Junge gefunden worden? Tot oder lebendig?
Niemand wusste etwas, aber die lang gestreckte Menschenkette brach allmählich auf, und man sammelte sich in kleineren Gruppen. Jan stand allein zwischen den Bäumen, bis er eine Frauenstimme hörte.
»Hauger! Ist hier ein Jan Hauger?«
»Ja!«, rief er zurück.
Es war eine Polizistin, die nun mit langen Schritten durch das Unterholz auf Jan zukam.
»Unten in der Tagesstätte findet eine Besprechung statt«, sagte sie. »Und Sie sollen hinkommen.«
Das war ein Befehl, und Jan wurde eiskalt. Sie haben ihn gefunden, dachte er.
»Warum denn?«
»Keine Ahnung. Soll ich Sie begleiten?«
»Nein«, entgegnete Jan schnell.
Als er zum »Luchs« kam, saÃen Nina, Sigrid und die drei anderen Erzieherinnen schon im Personalraum. Zwei Streifenpolizisten waren dabei, dazu noch ein Mann in Zivil, dem Jan aber sofort ansah, dass auch er von der Polizei war.
Jan knöpfte die Jacke auf und setzte sich neben Nina.
»Die Suchkette macht eine Pause«,
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