So coache ich
grüner Strumpfhose. Sie können entweder denken (jedenfalls, wenn Sie eine Frau sind): »Oh, mein Gott, was für eine schreckliche Kombination!«, oder Sie nehmen einfach wahr, was Sie sehen: »Rote Bluse, blauer Rock, grüne Strumpfhose.«
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich wesentlich mehr in Menschen sehe, seit ich meine Wertung ausschalten kann. Gelernt habe ich das Anfang der 1990er-Jahre von einem weisen Mann. John Hormann hieß er, er war damals gerade als Manager bei IBM ausgestiegen, weil er nach dem Sinn des Lebens suchte, und arbeitete für die Steinbeis-Stiftung. Für die Zeitschrift Cosmopolitan machte ich mit ihm ein Interview zu seinem damals neu erschienenen Buch Future
Work . Aus dem geplanten einstündigen Interview wurde ein vierstündiges Gespräch, das ich nie vergessen werde.
(Viele entscheidende Impulse, Trainerin und Coach zu werden, verdanke ich Begegnungen als Journalistin bei verschiedenen Zeitschriften mit eindrucksvollen Menschen aus Wissenschaft und Wirtschaft – vielleicht war das meine Art der Ausbildung, denn »richtige« Coaching-Ausbildungen hat es meines Wissens vor 25 Jahren noch nicht gegeben.)
John Hormann, der heute als gefragter Managementberater in Baden-Baden lebt, erzählte mir damals von der Kunst des Nichtwertens. Ich war sehr skeptisch. Aber er spornte mich an: »Das können Sie lernen.« Und ich begann es zu lernen. Mühsam, mit vielen Rückfällen. Nein, nicht »Was guckt der komisch?«, sondern einfach hinschauen und wahrnehmen. Nicht »Was für alberne Ohrringe«, sondern einfach »Aha, interessante Ohrringe«. Nicht mehr »Wie steht der denn da rum!?«, sondern hingucken: »Was siehst du?« Ich wurde damals für viele Freundinnen ziemlich uninteressant, weil ich bei dem beliebten Frauenspiel »Guck mal, wie die aussieht!« nicht mehr mitmachen wollte. Um ehrlich zu sein: Ich wurde in meinem missionarischen Eifer eine ziemliche Spaßbremse.
Ich glaube daran, dass das Leben uns in wichtigen Momenten die »richtigen« Menschen schickt. Menschen, die eine Herausforderung für uns sind oder die uns an unsere Grenzen bringen. Menschen, die uns einen Spiegel vorhalten oder den Weg in eine andere Richtung weisen. John Hormann war einer dieser Menschen für mich. Ich bin sehr dankbar dafür.
Ich glaube, dass ich durch diese jahrelange Übung im Nichtwerten mehr in Menschen sehe, als sie auf den ersten Blick darstellen. Und dies ist eine entscheidende Voraussetzung für die Potenzialentwicklung bei Menschen.
Auch im Coaching weitet Nichtwerten den Blick auf die Persönlichkeit hinter dem Sakko. Der weitgehende Verzicht auf Wertung fördert im Übrigen ganz allgemein die Menschenliebe, weil es die Strenge aus dem Blick nimmt und die Schönheit des anderen Menschen durchscheinen lässt. Wenn Sie sich darin trainieren, nicht zu werten, erkennen sie Seiten an Menschen, die mit der einschlägigen Vorurteilsbrille verborgen geblieben wären. Ein wunderbarer Nebeneffekt: Die Neugier auf andere Menschen steigt. Und damit die Zahl der interessanten Menschen.
Probieren Sie es selbst aus. Sie werden die gleichen Erfahrungen machen.
Erste Übung: Sehen Sie sich einen Tag lang aufmerksam irgendwelche Menschen an – auf der Straße, in der Bahn, in einem Café. Schauen Sie hin und versuchen Sie, das reflexhafte Werten, das in uns allen steckt, in eine nüchterne Beobachtung zu verwandeln: »Lange Haare, Vollbart, nachlässig gekleidet. Der schaut ja aus wie ein Waldschrat.« – Stopp! Nur hinschauen: »Blaue Augen, eine warme Stimme. Er lächelt. Aha.« Ohne den scharfen Wertungsfilter entdecken wir viel mehr an einem Menschen. Genau das macht Coachen so spannend. Nicht wie wir einen Menschen beurteilen, ist wichtig, sondern wie wir Menschen zu Chancen verhelfen, zählt.
2. Eine Coaching-Vereinbarung treffen
Wenn Sie jemandem anbieten, sich mit ihm zusammenzusetzen und nach einer Lösung zu suchen, vereinbaren Sie vorher genau, was der andere von Ihnen erwartet. Manchmal lässt uns der Gedanke, helfen zu können, über das Ziel hinausschießen. Ich erinnere mich an die Anfänge meiner Arbeit als Coach. Eine Freundin mit Liebeskummer, die mir am Telefon ihr Herz ausgeschüttet hatte, musste mich anschließend
erst einmal stoppen: »Ich wollte dir das alles nur erzählen, ich wollte nicht, dass du mich gleich coachst.« Dabei hatte ich es doch nur gut gemeint.
Also, klären Sie kurz ab, was Ihr Bruder, Ihre Freundin, Ihr Mitarbeiter, Ihr Gemeindemitglied oder wer
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