So einfach kann das Leben sein
wieder verließ. Seitdem sie das Bett nicht mehr verlassen konnte, nahm ihre geistige Kraft merklich ab. Dabei waren die Medikamente doch kürzlich erst neu eingestellt worden. Morgens und abends kam der Pflegedienst. „Geben Sie ihr regelmäßig zu trinken?“, fragte die Schwester ihn nur, als er ihr besorgt seine Beobachtung mitteilte. Seitdem ging er nicht mehr nur hin und wieder „nach ihr schauen“. Er lernte Getränke verschiedener Geschmacksrichtungen kennen und teilte sie zu verschiedenen Stunden des Tages und des Abends mit seiner Mutter. Gute Gespräche entstanden dabei wie von selber.
Wir können als Menschen eher hungern als dürsten. Das Wasser der Erde gehört allen Geschöpfen auf ihr. Und trotzdem kann sich nur eine Minderheit der Menschheit täglich an frischem Wasser erfreuen. Wer gut sein will, achtet auf die Hilf losen unserer Zeit, für die gutes Wasser unerreichbar ist – im Kleinen wie im Großen.
Nackte bekleiden
Ihr Kleiderschrank für den Winter müsste unbedingt ausgeräumt werden. Jetzt im August lag schon die neue Kollektion in der Auslage. Zu dumm, dass manches aus dem Vorjahr kaum getragen war. Aber was sollte sie tun? Auf der Arbeit war wichtig, wer als Erste mit der neuesten Mode erschien. Wohin also mit den alten Sachen? Vor dem Haus stand ein Sammelcontainer für Altkleider. Ihre alte Kleidung würde irgendwo auf einem Markt verkauft werden, immerhin „für einen guten Zweck“. Sie konnte das nicht mehr gelten lassen für sich. Mit einem fröhlichen Lachen rechnet sie aus, wie sie eine Nähschule in Afrika unterstützen könnte mit dem, was sie nun sparen würde.
Nackt werden wir geboren. Nackt sind wir alle gleich. Kleidung ist deswegen immer auch der Weg gewesen, den Unterschied deutlich zu machen zwischen Oben und Unten, Draußen und Drinnen, Arm und Reich. Jeder hat das Recht auf ein Ansehen, mit dem ihn die Gemeinschaft umhüllt. Schämen müssen sich alle, die andere dazu drängen, sich eine Blöße zu geben. Gut ist, wer jeden umhüllt sieht mit dem Mantel des Wohlwollens, den Gott um jeden legt. Und danach handelt.
Fremde beherbergen
Nahomie Filota wohnte vier Monate im vierten Stockwerk. Keiner der Nachbarn konnte sich erklären, wie die dunkelhäutige junge Frau, die dem Vernehmen nach aus Eritrea stammte, ihre Wohnung bezahlen konnte. Auf der Treppe lachte sie allen im Haus freundlich zu, was jedoch meistens nur mit einem etwas verlegenen Blick quittiert wurde. Eines Abends fasste Herr Kerrner sich ein Herz. Er klingelte an der Wohnungstür der neuen Nachbarin. „Einen Moment“, konnte er einen Ruf von drinnen vernehmen. Kurz darauf öffnete sich die Tür. Nachdem er sich vorgestellt hatte, bat sie ihn herein. „Ich musste nur noch letzten Satz des ersten Kapitels meines nächsten Romans abschließen“, sagte sie entschuldigend.
Niemand ist für immer daheim. Wir bleiben Pilger auf dieser Erde. Wer Heimat hat, soll dem Fremden den freundlichen Boden des Willkommens bereiten. Die Verunsicherung durch den, der kommt, wird aufgehoben in der Erwartung einer Beanspruchung, die neue Horizonte öffnet. Gut ist, wer seiner Angst vor dem Fremden entschieden den Willen zur Begegnung entgegensetzt.
Gefangene erlösen
Ihr Sohn war verurteilt worden. Heidemarie Schüler konnte seitdem kaum auf die Straße gehen. Sie hatte das Gefühl, jeder sähe ihr das an. Nur im engsten Familienkreis wussten sie davon. Und natürlich Monika, ihre beste Freundin. Die hatte sie heute sprachlos gemacht: „Ich besuch’ den Markus nächste Woche“, meinte sie unvermittelt am Telefon, als Heidemarie wieder einmal darüber klagte, dass sie sich selber wie im Gefängnis vorkam. „Und weißt du was? Ich habe seinen Arbeitskollegen Tim gebeten, mitzukommen. Der hat das Märchen von der Weltreise sowieso nicht geglaubt. Und anschließend kommen wir zur dir und erzählen dir, wie es Markus geht.“
Das Böse verschließt uns Menschen. Uns beschämt, was den Abgründen unseres Herzens entsteigt. Wir sind uns selber unheimlich. Darum kommt uns der böse Andere gerade recht. Unser Finger zeigt erleichtert auf jene, die noch schlimmer sind als wir: Sie sind zumindest öffentlich verurteilt. Wer Gefangene besucht, konfrontiert sich mit der eigenen Fähigkeit zur Schuld. Gut ist, wer sich nicht ständig reinwäscht im Gespräch über Schuld und Sühne. Und einem Verurteilten brüderlich die Hand reicht.
Kranke besuchen
Sie kannten sich schon lange. Zwar wurden
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