So einfach kann das Leben sein
Jahre waren seit der Fehlgeburt vergangen. Sie hatten sich so gefreut. Zwar wurde ihnen dann ein gesundes Mädchen geschenkt, aber trotzdem: Lilly würde immer ihr zweites Kind bleiben. Ohne es zu verabreden, blieb es in ihrer Familie gegenwärtig. Heide schaute ihn an: „Schön, dass du daran gedacht hast.“ Sie legte den Kopf an seine Schulter. Eine Träne löste sich aus ihrem Auge. Sie spürte, wie Kilian sie sanft wegküsste. Als sie die Augen öffnete, sah sie auch in seinen Augen einen Tränenschimmer. Es war immer noch schmerzlich. Sie würden es nie vergessen wollen. Das müsste auch Lilly lernen.
Immer weniger Kinder dürfen mit zu Sterbenden oder gar Toten. So fehlen ihnen gute Erfahrungen von Gehaltensein, Liebe und Geborgenheit, die ein Kind empfindet, wenn es mitgenommen wird in die traurigen Erfahrungen des Lebens. Erwachsen geworden, fehlt das Rüstzeug, den Schmerz des Abschieds zu gestalten. Oft reicht ein Wort oder ein stiller Händedruck. Einfach gut ist es, sich eine gewisse Zeit lang regelmäßig bei Trauernden zu melden. Sie brauchen den Trost, für die Mitmenschen nicht gestorben zu sein.
Lästige geduldig ertragen
Irina konnte es bald nicht mehr ertragen. Jeden Tag rief ihre Mutter an. Dabei war die Studentin doch auch schon vorher länger weggewesen. Am liebsten hätte sie ihrer Mutter verboten, sich immer und immer wieder ans Telefon zu hängen. Aber irgendetwas hinderte sie daran. Erst in den folgenden Semesterferien nahm sie, bevor sie wieder losfuhr, allen Mut zusammen. An einem der letzten Abende daheim sprach sie mit ihrer Mutter über den wachsenden Widerwillen, täglich angerufen zu werden. „Ein Glück“, dachte sie später, „dass ich es überhaupt angesprochen habe. Sonst hätte ich nie von der verrückten Freundin meiner Mutter erfahren, die sie regelrecht unter Druck gesetzt hatte, doch ja dem ‚Kind‘ auf diese Weise Liebe zu zeigen.“
Manche können einfach nichts dafür. Sie sind nicht nur einem Menschen lästig, sondern gleich mehreren. Dahinter steckt oft eine frühe Erfahrung, zurückgewiesen worden zu sein. Immer und immer wieder tauchen sie auf. Und werden genauso regelmäßig nicht ernst genommen. Wer gut sein will, wird solche Mitmenschen zunächst einmal so annehmen, wie sie eben sind. Güte beschneidet den Nächsten nicht mit Gewalt. Gleichwohl setzt sie ihm geduldig auch Grenzen, verbunden mit der Hoffnung auf eine echte Begegnung, die dem anderen Frieden bringt.
Denen, die uns beleidigen, gern verzeihen
Nichts war mehr so wie früher. Seitdem ihm Markus vorgeworfen hatte, er sei sowieso nur am Geld seiner Freundin interessiert, war er wutentbrannt aus dem Sportverein ausgetreten. Mit solchen Typen wollte er nichts mehr zu tun haben. Er hatte ihn aus seinem Adressbuch gestrichen. Den Brief, den Markus ihm zu Weihnachten, sechs Monate danach, geschrieben hatte, steckte er ungeöffnet in den Papierschredder. Das war aber schon weniger aus Wut über die Beleidigung, sondern mehr schon aus Ärger über sich selber: Die Freundin hatte längst Schluss gemacht; sie wollte einen wohlhabenderen Freund. „Armer Markus“, dachte er, „du hattest ja recht. Aber dich anrufen? Was wirst du denken?“
Dem Beleidigten verengen sich Herz und Verstand. Der Schmerz bohrt sich tief bis in den Kern der eigenen Person. Man fühlt sich verraten und verkauft. Wer so in die Enge getrieben wird, kann in seinem Glauben an das Gute leicht verzweifeln. Darum ist die Zuflucht zu Menschen, die einen verstehen, der erste Weg nach einem solchen Angriff. Wer sich das Gutsein bewahren will, macht sich bewusst, dass der Beleidiger nicht die Macht hat, die man ihm gerade zuschreibt. Durch den Austausch mit anderen Menschen und im Gebet wächst die Kraft, über den Dingen zu stehen. Und ohne Angst um sich selber einen Schritt zur Lösung dieses Schmerzes zu tun.
Für Lebende und Tote beten
Es war einfach nur leer in ihrer Wohnung. Vier Monate waren schon vergangen, seitdem Helmut gestorben war. Dabei hatten sie sich so auf die Rente gefreut. „Ich mach’ alles wieder gut“, hatte er bei ihrem letzten Geburtstag in die Karte geschrieben. Sie wusste, was er meinte: Seine Arbeit hatte ihn oft wochenlang von der Familie ferngehalten. „Wenn die Rente kommt …“, – ja, und nun war schon alles vorbei. Ob er sich schämen würde, dass er nun eben nichts mehr nachholen konnte? Oder war alles vorbei? Für ihn. Und für sie? Langsam ging sie zum Bild auf dem
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