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So finster die Nacht

So finster die Nacht

Titel: So finster die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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Schuppen, in dem Papa alten Eisenschrott verwahrte. Ja. Sie roch nach … Rost. Eine Fingerspitze strich über sein Ohr. Sie flüsterte:
    »Ich bin ganz allein. Niemand weiß es. Willst du?«
    »Ja.«
    Sie führte rasch ihr Gesicht zu seinem, schloss ihre Lippen um seine Oberlippe, hielt sie mit einem leichten, ganz leichten Druck fest. Ihre Lippen waren warm und trocken. Speichel schoss ihm in den Mund, und als er seine eigenen Lippen um ihre Unterlippe schloss, wurde sie feucht, weich. Behutsam kosteten sie ihre Lippen und ließen sie aufeinander gleiten, und Oskar verschwand in einem warmen Dunkel, das sich schrittweise erhellte, zu einem großen Saal wurde, einem Schlosssaal, in dessen Mitte ein langer Tisch voller Essen stand, und Oskar … läuft zu den Leckereien, beginnt mit bloßen Händen von ihnen zu essen. Um ihn herum sind andere Kinder, große und kleine. Alle essen von dem Tisch. Am Kopfende des Tisches sitzt ein … Mann? … eine Frau … ein Mensch, der eine Perücke zu tragen scheint. Eine gewaltige Haarmähne bedeckt den Kopf. Der Mensch hat ein Glas in der Hand, gefüllt mit einer dunkelroten Flüssigkeit, sitzt bequem zurückgelehnt auf seinem Stuhl, nippt an dem Glas und nickt Oskar aufmunternd zu.
    Sie essen und essen. Weiter hinten in dem Saal, an der Wand, kann Oskar Menschen in ärmlicher Kleidung ausmachen, die unruhig verfolgen, was um den Tisch herum geschieht. Eine Frau, die ein braunes Tuch um die Haare geschlungen trägt, die Hände vor dem Bauch fest verschränkt hält, und Oskar denkt »Mama«.
    Dann klirrt ein Glas, und die Aufmerksamkeit aller Anwesenden wendet sich dem Mann am Kopfende des Tisches zu. Er richtet sich auf. Oskar hat Angst vor diesem Mann. Sein Mund ist klein, schmallippig, unnatürlich rot. Das Gesicht kreideweiß. Oskar fühlt Fleischsaft aus dem Mundwinkel rinnen, ein kleiner Bissen Fleisch liegt ganz vorn in seinem Mund, und er schiebt ihn mit der Zunge fort.
    Der Mann hält einen kleinen Lederbeutel hoch. Mit einer graziösen Handbewegung löst er das Band, das den Beutel verschließt, und lässt zwei große weiße Würfel auf den Tisch fallen. Es hallt in dem Saal, als die Würfel rollen, liegen bleiben. Der Mann nimmt die Würfel in die Hand, hält sie Oskar und den anderen Kindern hin.
    Der Mann öffnet den Mund, um etwas zu sagen, aber im gleichen Moment fällt der kleine Fleischbissen aus Oskars Mund und …
     
    Elis Lippen verließen seine, sie löste den Griff um seinen Kopf, trat einen Schritt zurück. Obwohl es ihm Angst machte, versuchte Oskar von Neuem das Bild des Schlosssaals heraufzubeschwören, aber es war fort. Eli sah ihn forschend an. Oskar rieb sich die Augen, nickte.
    »Es ist also wahr.«
    »Ja.«
    So standen sie eine ganze Weile und schwiegen. Dann sagte Eli. »Magst du reinkommen?«
    Oskar sagte nichts. Eli zog an ihrem T-Shirt, hob die Hände, ließ sie fallen.
    »Ich werde dir niemals etwas antun.«
    »Das weiß ich doch.«
    »Woran denkst du?«
    »Dieses T-Shirt. Ist das aus dem Müllkeller?«
    »… ja.«
    »Hast du es gewaschen?«
    Eli antwortete nicht.
    »Du bist ein bisschen eklig, weißt du das?«
    »Wenn du willst, kann ich mich umziehen.«
    »Ja. Tu das.«
    *
    Er hatte von dem Mann auf der Bahre, unter dem Tuch, gelesen. Dem Ritualmörder.
    Benke Edwards hatte alle Arten von Leichen durch diese Korridore zum Kühlraum geschoben. Männer und Frauen jeden Alters und aller Größen. Kinder. Es gab keine speziell für Kinder bestimmte Bahre, und wenige Dinge berührten Benke so unangenehm, wie die leere Fläche, die auf der Bahre blieb, wenn man ein Kind transportierte; das kleine Geschöpf unter dem weißen Tuch, gleichsam an das obere Ende der Bahre gepresst. Das Fußende leer, das Tuch glatt. Diese Fläche war der Tod an sich.
    Doch nun schob er einen erwachsenen Mann und damit nicht genug; eine Berühmtheit.
    Er schob die Bahre durch die stillen Korridore. Das einzige Geräusch war das leise Quietschen der Gummiräder auf dem Linoleumboden. Hier unten gab es keine Farbmarkierungen auf dem Fußboden. Wenn sich ein Besucher hierher verlor, war er stets in Begleitung eines Krankenhausmitarbeiters.
    Benke hatte vor dem Krankenhaus gewartet, während die Polizei Fotos von der Leiche gemacht hatte. Ein paar Typen von der Presse hatten mit ihren Kameras hinter der Absperrung gestanden, mit starken Blitzlichtern Fotos vom Krankenhaus gemacht. Morgen würden diese Bilder in der Zeitung sein, ergänzt durch eine gestrichelte Linie, die

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