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So finster, so kalt

So finster, so kalt

Titel: So finster, so kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Menschig
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gar nicht so einfach, denn der Pfad wurde mit der Zeit immer schmaler und war von Farn und Brombeersträuchern überwuchert. Dann gelangten sie wieder an eine größere Wegkreuzung. Hans sah gerade noch, wie Greta einen verwilderten Pfad zwischen hohen Fichten wählte. Er verzweifelte langsam. Soweit er sich orientieren konnte, liefen sie immer auf ungefähr der gleichen Höhe die Flanke des Hügels entlang und kreuzten die Wege, die von unten nach oben führten. Aber bald wurde es dunkel, und dann wusste er nicht, wie er zurückfinden sollte.
    Immer wieder rief er Greta, doch sie reagierte nicht, und so folgte er ihr immer tiefer in den Wald hinein.
    Ganz unvermittelt bog sie ab. Hans dachte erst, dass sie mitten durch das Unterholz liefe. Erst als er näher kam, sah er die schwachen Spuren eines Pfades. Er schaute sich um. Irgendwie musste er den Rückweg markieren. Nur womit? Er entdeckte weder Steine noch Äste, die auffällig genug waren. Da fiel ihm das Brot in seiner Tasche ein. Wenn er einige helle Krümel auf den Weg streute, würden die sich von dem dunklen Boden gut abheben. Er versuchte es, und zu seiner Erleichterung war die Spur deutlich zu sehen. Also rannte er weiter und ließ immer wieder einige Stücke fallen. Ihm war völlig klar, dass in der Nacht Eichhörnchen und Vögel einen Teil des Brotes sammeln würden, doch er hoffte, dass sie nicht gleich alles wegfraßen, denn eine andere Möglichkeit, sich zu orientieren, fiel ihm nicht ein.
    Er lief weiter und wäre im nächsten Moment um ein Haar über Greta gestolpert. Sie hockte halb verdeckt vom Unterholz und beobachtete etwas. Er erschrak, ließ das restliche Brot fallen und setzte wütend an, um sie auszuschimpfen. Inzwischen war es fast dunkel. Sie würden Mühe haben, den Weg zurück zum Hochsitz zu finden.
    »Sag mal …«
    »Schweig still!« Greta ergriff Hans an einem Hemdzipfel und riss ihn mit erstaunlicher Kraft neben sich zu Boden.
    Verblüfft schwieg er und versuchte zu erkennen, was ihre Aufmerksamkeit so fesselte.
    Sie befanden sich oberhalb einer Hütte, die sich mit einem weit ausladenden Dach in den Hügel schmiegte. Der vordere Teil bestand aus zwei Stockwerken und diente als Wohnhaus, der hintere Teil war Stall beziehungsweise Scheune und Heuboden. In einem Zimmer im Erdgeschoss brannte eine Laterne. Auf den ersten Blick konnte Hans nichts Besonderes erkennen.
    »Wer wohnt da?«, fragte Hans flüsternd.
    »Eine Frau. Sie hasst mich. Du musst sie töten!«
    »Was sagst du da?« Hans starrte abwechselnd auf das Haus und auf Greta.
    »Sie ist böse! Sie will mich töten. Deshalb musst du sie vorher töten.«
    »Ach so.« Hans versuchte, ganz gelassen und erwachsen zu klingen. So machten das seine Eltern immer, wenn seine Geschwister irgendeinen Unsinn erzählten. Wenn sie meinten, einen Wolf im Wald gesehen zu haben oder den schwarzen Unhold. Erst einmal taten sie so, als glaubten sie es, bevor sie erklärten, warum es nicht sein konnte.
    Greta gab ihm einen Schubs, und Hans fiel nach vorne. Die Feuchtigkeit des Waldbodens drang durch seine Hose.
    »Geh jetzt! Töte sie!«, befahl Greta.
    Hans rappelte sich wieder auf und rieb sich ärgerlich den Dreck von den Knien. »Nein! Ich gehe jetzt zurück ins Dorf.«
    Er schob sich an ihr vorbei und erstarrte. Ein Schwarm Raben hatte sich auf dem Pfad niedergelassen. Jetzt erhoben sie sich krächzend, und noch im Flug balgten sie sich um die Brotstücke, die Hans zuvor hatte fallen lassen. Fassungslos stierte er in die Luft, bis die Vögel zwischen den Baumwipfeln verschwanden und ihre Schreie vom Wind davongetragen wurden. Hans überlief eine Gänsehaut, und er fuhr herum.
    Greta hatte sich ebenfalls erhoben. Sie schaute den Vögeln mit verträumtem Blick nach. Ihre Stimme verfiel in einen aufreizend säuselnden Singsang, als sie sagte: »Töte die Alte. Bitte, lieber Bruder. Tu es für mich!«
    »Warum machst du das nicht selbst?«
    »Ich kann es nicht.«
    »Ich habe auch keine Übung darin, Menschen zu töten. Ich kann einem Huhn den Hals umdrehen.«
    »Das ist dasselbe.« Gretas Augen glänzten groß und geheimnisvoll.
    Hans bekam ganz weiche Knie. »Mach es selbst«, wiederholte er mit schwacher Stimme.
    »Ich kann nicht dorthin. Ich kann nicht über diesen Weg. Sie hat es mir verboten. Dir nicht.« Das Mädchen stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte Hans einen Kuss auf die Wange. »Biiiiitteeeee.« Ihre Stimme klang wie ein Windhauch, der den Duft der fernen Welt und des

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