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So finster, so kalt

So finster, so kalt

Titel: So finster, so kalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Menschig
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Abenteuers mit sich trug. Verbotene Abenteuer. Das, was Hans am meisten reizte. Er konnte sich nicht wiedersetzen.
    Mit schwankenden Schritten ging er los. Er würde sich die Hütte zumindest einmal aus der Nähe ansehen. Leise näherte er sich erst dem Waldrand und schlich dann über eine Wiese. Dabei behielt er das beleuchtete Fenster und die Eingangstür stets im Auge.
    So bemerkte er die alte Frau erst, als sie ihn im Nacken am Kragen packte und zurückriss. Überrascht schrie Hans auf.
    »Was hast du hier zu suchen, Bursche?«
    »Tut mir nichts! Ich wollte nur sehen, wer hier wohnt!« Hans verlor den Boden unter den Füßen. Er strampelte und schlug um sich, traf aber nur Luft. Die Frau war kaum größer als er, hatte jedoch ganz ohne Zweifel Bärenkräfte. Scheinbar mühelos ließ sie ihn am ausgestreckten Arm einige Handbreit über dem Boden baumeln.
    Er versuchte, den Kopf zu drehen, und erhaschte einen Blick auf ein verrunzeltes Gesicht, das von einem wirren grauen Haarschopf umgeben war. Sie hatte dieselben schwarzen Augen wie Greta.
    Zum ersten Mal ahnte Hans, was die Menschen in Greta erkannten. Diese Frau wirkte ebenso wenig furchteinflößend oder gar böse wie das Mädchen, hatte aber etwas an sich, das einen innehalten ließ.
    Und das tat Hans.
    Als die Frau das bemerkte, setzte sie ihn wieder auf dem Boden ab, ließ ihn aber nicht los. »Du wolltest wissen, wer hier wohnt? Ich. Jetzt weißt du es. Was folgt daraus?«
    Hans schwieg verunsichert und versuchte, Greta im Unterholz zu erkennen. Er war ein wenig ratlos. Wollte sie wirklich, dass er diese harmlose alte Frau umbrachte? Oder war die Frau nicht, was sie zu sein schien? Konnten harmlose alte Frauen Jungen wie ihn mit einer ausgestreckten Hand über dem Boden baumeln lassen? Nein, konnten sie nicht. Aber wer war die Frau dann, und wie sollte er gegen sie ankommen?
    Die Frau folgte seinem Blick und setzte unerwartet ein Lächeln auf. »Wen haben wir denn da? Komm raus!«
    Hans hätte sich ohrfeigen können. Nie, nie, niemals sollte man in die Richtung gucken, in der der Kumpel Schmiere stand. Erwachsene hatten einen übernatürlichen Sinn dafür, Blickrichtungen zu deuten und so die Verbündeten aufzudecken. Wie hatte er das nur vergessen können?
    Nichts rührte sich. Hans zupfte an seinem Hemd, doch die Frau hielt ihn mit eisernem Griff. Ihm fielen die Bemerkungen Pater Gangolfs über das fahrende Volk ein. Vielleicht gehörten die Frau und Greta wirklich zu ihnen. Die Alte hatte jedenfalls einen bunten, vielfach geflickten Rock an, der ihr bis zu den Knöcheln reichte. Darüber trug sie ein schwarzes Oberkleid, das mit Stickereien verziert war, die wie Blumen und Ranken aussahen. Hans hatte vergessen, wie man so etwas nannte. Seine Mutter verachtete Frauen, die solch unpraktische Kleidung trugen oder gar Zeit damit vergeudeten, sie anzufertigen. Hans fand die Kleider schön. Er verlor sich einige Momente im Anblick einer fein gestickten Linie, die in wilden Drehungen über den Ärmel lief. Seine Augen tanzten der verschlungenen Welle nach, drehten sich, wirbelten, bis sich sein Verstand in das Muster hineinringelte. Schlaf … Hans wollte niedersinken und ausruhen. Nur der Griff der Alten hielt ihn aufrecht.
    Er wurde jäh aus seiner Versunkenheit gerissen, als ein einziges Wort, ein Name, wie von einem riesigen Ungeheuer gebrüllt, über die Wiese donnerte. Für einen Moment packte Hans die blanke Panik. Er zappelte wieder, wollte weg, einfach nur weit weg, aber seine Befreiungsversuche waren aussichtslos.
    »Komm heraus! Zu mir! Jetzt!« Das war eindeutig die Stimme der alten Frau, tiefer und viel lauter als eben, aber dennoch deutlich erkennbar.
    Hans war längst der Schweiß ausgebrochen. Die kühle Abendluft traf auf seine feuchte Haut, und er begann zu zittern. »Bitte, Gevatterin, lasst mich gehen. Ich habe nichts getan! Mein Vater ist Joseph, der Holzhacker, er wird für mich sprechen. Ich bin ein guter Junge. Habt Mitleid!« Er faltete die Hände wie zum Gebet und sah flehentlich zu der Frau auf.
    Sehr zu seiner Überraschung zog die Alte ihn an sich und legte ihm den Arm um die Schulter, wie es die Mutter tat, wenn eines der Kinder schlecht geträumt hatte.
    Hans vernahm einen unbestimmten Geruch von frisch gebackenem Kuchen in ihrer Kleidung. Er erinnerte ihn an zu Hause und an seine Mutter.
    »Keine Angst, kleiner Hänsel. Ich werde dich beschützen. Mit meinem Leben und über den Tod hinaus. Ich erkenne dich. Du bist ein guter,

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