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So fühlt sich Leben an (German Edition)

So fühlt sich Leben an (German Edition)

Titel: So fühlt sich Leben an (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagen Stoll
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ich versucht, sie aufzumuntern, aber mir fehlten jegliche Argumente, und während ich bei ihr im Schlafzimmer saß und auf sie einredete und einen Trost zu spenden versuchte, den es nicht gab, wurde mir immer klarer: Sie will nicht mehr. Du musst was unternehmen. Irgendetwas.
    Ich war völlig durcheinander. Ich konnte das nicht mehr mit ansehen. Ich kochte vor Wut. Ich wollte meinem Vater auch nicht mehr seine Erschütterung zugutehalten. Fahr hin, habe ich mir gesagt, stürm die Bude, wo er jetzt mit seiner Neuen sitzt, mach ihm die Hölle heiß, hol ihn zurück. Und dann habe ich mich ins Auto gesetzt und bin hingefahren– und habe mich nicht getraut. Ich wollte ihn nicht mit seiner neuen Perle da sitzen sehen, ich hatte auch nicht den Arsch in der Hose, die Sache durchzuziehen, und so habe ich vor seinem Haus unverrichteter Dinge kehrtgemacht, und das mehr als nur ein Mal, bis ich eines Tages, zwei Monate später vielleicht, dermaßen geladen war, dass ich endlich bei ihm geschellt habe. Vermutlich ahnte mein Vater, was auf ihn zukam. Jedenfalls drückte jemand die Haustür kommentarlos auf, ich in den Aufzug gesprungen, hochgefahren, natürlich wieder so ’ne Platte, und als ich oben angekommen war und vor der Wohnungstür stand, hatte ich keine Lust mehr zu klingeln.
    Ich sehe mich noch Schwung holen und die Tür eintreten. Diese Plattenbautüren waren dünn, besseres Sperrholz, wenn du gegen das Schloss getreten hast, sprangen sie anstandslos auf, und ich wollte schon vor dem ersten Wortwechsel einen richtig schönen Auftritt hinlegen.
    Er hat mich nicht mal gefragt, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe. Er hatte genau verstanden. Und zum Wortwechsel kam es auch nicht. Mein Kuje saß nur da in seinem neuen Wohnzimmer mit seinem neuen Fernseher, als würde er jeden Augenblick zerbrechen, und hörte sich wortlos an, was mir zu dem Thema so einfiel. » Was denkst du dir? Schieb deinen Arsch nach Hause, du Idiot! Muttern liegt im Bett und kommt nicht mehr hoch. Die stirbt uns weg, wenn du nicht bald kommst…« Ich beendete meine Ansprache mit der Frage, ob er das wirklich nötig habe, und als ich ihm den Rücken kehrte, zitterte ich am ganzen Körper.
    Im Auto habe ich gepumpt wie ein Maikäfer. Und mehr oder weniger auf dem ganzen Weg zu meiner Mutter geheult. » Ich war da«, habe ich ihr gesagt. » Und ich glaube, dass er zurückkommt.«
    Er kam tatsächlich zurück. Anfangs habe ich gedacht, die Versöhnung sei nur gespielt– da beißen eben zwei in denselben sauren Apfel. Später habe ich festgestellt, dass meine Mutter ihm verziehen und die Liebe in diesem Fall wirklich gesiegt hatte. Nach einer Unterbrechung von drei Jahren haben sie aufs Neue zueinander gefunden, womit die Welt für alle Beteiligten wieder in Ordnung war. Und für mich fiel dabei obendrein die schöne Erkenntnis ab, dass man dem anderen auch den größten Bockmist verzeihen kann.
    So weit das häusliche Drama. Wenn man das Marzahn der frühen Neunzigerjahre als Ganzes in den Blick nimmt, sieht es mindestens ebenso fürchterlich aus. Da kochte ein Gemisch aus Hoffnungslosigkeit, Wut, Gier und Rachsucht hoch, das Marzahn in eine Hölle verwandelte, und unser ABV gehörte zu den Ersten, die das zu spüren bekamen.
    Als die Mauer fiel, wollte er natürlich weiter seine Runden drehen, musste aber schnell einsehen, dass er nichts mehr zu melden hatte. Die Zeiten, in denen er ganze Nachmittage lang die korrekte Führung der Hausbücher kontrollieren durfte, waren endgültig vorbei. Jahrelang hatte er sich als Quälgeist erster Güte bewährt, jetzt gab es Eltern, die ihre Söhne auf ihn ansetzten. Es kam vor, dass ich auf dem Weg zum S-Bahnhof war, und er lag da in irgendeinem Vorgarten und konnte nicht mehr. Ansonsten sah man ihn nur noch bleich und ungepflegt aus seiner Wohnung huschen, um Einkäufe zu erledigen, und selbst das wurde ihm bald durch einen Teil meiner Klassenkameraden schwer gemacht, die ihn schon an der Haustür mit den Worten » Hey, du Spitzel!« in Empfang nahmen– und es nicht dabei beließen. Mal warfen sie ihm mit Farbe gefüllte Luftballons auf seinen Balkon, mal jagten sie ihn mit Fußtritten und Schlägen in seinen Hausflur zurück. Bevor ich für mich entscheiden konnte, ob die Söhne der Altunterdrückten damit eine Heldentat vollbrachten oder bloß einem ruppigen Zeitvertreib nachgingen, hatte die Sache ein Ende: Unser ABV verstarb. » Entweder haben die Kerls ihn totgeprügelt, oder er hat sich selbst den

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