So fühlt sich Leben an (German Edition)
Strick genommen«, kommentierte seine Nachbarin den Vorfall ungerührt.
Doch noch waren solche Anflüge nackter Aggression eine Seltenheit und ein Privileg derjenigen, die schon immer leidenschaftlich gern Leute verprügelt hatten. Der Großteil meiner Altersgenossen hielt sich da raus, schließlich wollte man sich in seinem neuen Leben nicht von vornherein danebenbenehmen. Allerdings, die Vor-lieben änderten sich rasend schnell. Bereits kurz nach der Wende schloss dieKlinke, unser Jugendklub, bisher die Anlaufstelle für uns schlecht gekleidete, aber gut gelaunte Arbeiterkinder, und zwar nicht etwa, weil keiner von uns mehr auf dem durchgewetzten Filz Billard spielen wollte– sondern weil es dort keine Coca-Cola gab!
Das war unverzeihlich. Unser Maßstab hieß Coke. Ein vielsagendes Beispiel für die Coca-Cola-Sucht der Nachwendezeit ist mein Kumpel Krüger, der nach seinem ersten Cola-Rülpser den Schwur leistete: » Von jetzt ab trinke ich nur noch Coke, mein Leben lang.« Selbst ich fand das übertrieben, aber Krüger hielt sein Versprechen und eröffnete einen Getränkemarkt. Irgendwann fing er an, sich Bacardi in seine Coke zu kippen. » Hagen, Veredelung ist das Geheimnis des Erfolgs«, sabbelte er mit einer beträchtlichen Fahne, als ich ihn 1998 in seinem leeren Laden besuchte. Es ging aber noch weiter bergab. Nachdem er sich lange gegen den Verkauf seiner Immobilie an einen Discount-Markt gewehrt hatte, machte die Kette einfach ihren eigenen Laden gleich gegenüber auf. Durch den Vorgang tief verletzt, ließ Krüger die Cola irgendwann ganz weg und trank den Rum pur. Aus der Flasche.
Klar, ein Einzelschicksal. Und ein sympathisches Missgeschick, eine geradezu heroische Fehlspekulation, wenn man es mit dem Ausmaß an Dummheit und Verirrung vergleicht, zu dem sich viele meiner Generation jetzt hinreißen ließen.
Wie es anfing?
1991 hatte ich die Schule endlich mit viel Glück hinter mich gebracht, traf mich aber weiterhin mit den Jungs aus meiner Klasse. Zusammen mit anderen Marzahner Kumpeln bildeten sie meine Clique, und nun geschah Sonderbares: Jeder hatte plötzlich einen Standpunkt. Einen politischen, gesellschaftspolitischen Standpunkt, wenn man das wirre Gefasel so nennen will, das praktisch über Nacht in Mode gekommen war. Selbst der größte Idiot wusste auf einmal, wo der Hase im Pfeffer lag und was mit ihm zu tun wäre. Wie’s aussah, brauchten die Jungs eine neue Aufgabe. Nachdem es mit Frieden und Sozialismus nicht geklappt hatte, glaubten jetzt etliche an eine Verschwörung gegen die weiße Rasse und fühlten sich berufen, die Verschwörer zu vernichten. Vielleicht wollten sie nach dem Reinfall mit Honecker und Co. auch nur mal auf der Siegerseite stehen.
An mir war die Mobilmachung der weißen Rasse vorübergegangen. Mir waren zwar die Plakate der DVU , der NPD , der Republikaner aufgefallen, aber ich war nie dabei gewesen, wenn deren Herolde bei ihren Auftritten in unseren Kneipen und Klubgaststätten ihren verstörten Zuhörern Salz in die Wunden streuten und sie anschließend mit den Worten aufmunterten: So, jetzt formieren wir uns hier und reißen das Ruder rum. Ich habe nur festgestellt, dass die Skinheads immer mehr wurden. Leute, die gestern noch normal rumgelaufen waren, hatten am nächsten Tag ’ne Glatze. Anfangs hab ich mich gewundert, wenn so einer wie der hier auf mich zukam:
» Warum hast du dir die Haare abrasiert?«
» Was’s denn mit dir los?«, sagte er. » Ich bin Skin.«
» Wat bist du?«
» Bin ’n Skinhead.« Und machte den Hitlergruß.
Habe ich gar nicht ernst genommen. War ja ein guter Bekannter von mir. So wie die anderen auch, die meisten jedenfalls. Aber auf einmal lungerten da, wo man sich immer mit der Clique traf, dreißig, vierzig Glatzköpfe rum.
In der ersten Zeit hatte ich Glück. Da schreckten sie vor mir zurück, obwohl ich ihnen mit meinen langen Haaren ganz und gar nicht passte, da gab’s noch eine gewisse Beißhemmung– aha, das ist der Hagen, der war mit dem und dem in der Klasse, alles klar. Doch mit der Zeit zählte das nicht mehr, und wenn sie im Rudel unterwegs waren, auf der Suche nach Ausländern, nach Vietnamesen oder Afrikanern, und keinen fanden, den sie jagen konnten, dann haben sie sich eben mich ausgesucht. Mich mit meinen langen Haaren und meiner Negermusik.
Ich meinerseits wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, bei denen mitzumachen. Schon deshalb nicht, weil sie so hässlich waren. Hässlich wie die Nacht. Das
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