So fühlt sich Leben an (German Edition)
waren hässliche Menschen, die sich entschlossen hatten, sich über ihre Hässlichkeit zu definieren, nach dem Motto: Na gut, dann bin ich eben hässlich– aber gefährlich! Man muss sich mal vorstellen, was für ein Bild so ein Skin abgibt, wenn er vor einem steht in seiner domestosgebleichten Jeans, die derartig eng ist, dass er dich mit dem Abdruck seines Gemächts erfreut; da kriegt man schon beim Anblick seiner spindeldürren Beine zu viel, ganz zu schweigen von den fetten Doc Martens mit den weißen Schnürsenkeln am Ende dieser Beine– wie in Zement gegossen und fertig zum Versenken. Auch Koteletten (Schenkelbürsten haben wir dazu gesagt) und ein kahl rasierter Kopf machen einen Menschen nicht schöner, und wenn dann noch eine weinrote Bomberjacke in XXL dazukommt, wo es auch eine in M getan hätte, dann sieht das einfach zum Schießen blöd, geradezu abartig aus; und so hat diese Brut von Anfang an auf mich gewirkt. Was mich darüber hinaus abhielt– obwohl dieser Anblick schon gereicht hätte–, das war mein Opa Ludwig mit seinen Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg. Mein Geschichtsbild stammte nämlich eher von ihm als aus der Schule, weil er mir lebendige Bilder des Nazi-Schreckens in die Seele gepflanzt hatte, und mehr brauchte ich gar nicht zu wissen, um absolut sicher zu sein: Hier läuft was schief.
Nachdem sich die Glatzen ein bisschen warmgelaufen hatten, immer hinter Ausländern her, ging es in Marzahn richtig zur Sache.
Die Volkspolizei hatte bei uns nichts mehr zu melden und nichts mehr zu lachen. Wer Uniform trug, war bloß noch eine Witzfigur. Polizeiautos, die sich in Marzahn sehen ließen, wurden einfach aufs Dach gelegt, und zwar während die Bullen drinsaßen– da brauchten nur sechs Mann auf einer Seite anzuheben, und so ein Lada überschlug sich. Wenn sie Glück hatten, kamen die Insassen noch raus, aber es gab auch Durchgeknallte, die mit Molotowcocktails auf Bullenautos losgingen. Das war Bürgerkrieg. Irgendwann zog die Westberliner Polizei mit ihren ostdeutschen Kollegen gemeinsam los, aber auch die Westkollegen haben schnell gemerkt, was bei uns abging, und wenn hundert Neonazis auf dem Helene-Weigel-Platz zusammenliefen, dann sind sie gar nicht erst aus ihren Wannen ausgestiegen; was sollten sie mit acht oder sechzehn Mann denn ausrichten? Sie schafften es ja kaum, ihre ausgebrannten Ladawracks aus Marzahn rauszuholen. Da hat sich der Staat begreiflicherweise gesagt: Nee, lass mal, müssen wir uns was anderes überlegen, aber diese Denkpause dauerte mehrere Jahre, und in der Zwischenzeit herrschte auf unseren Straßen Narrenfreiheit. Besser gesagt, Idiotenfreiheit.
Und ich bin gerannt. Plattenbaumarathon. Im Prinzip war man nirgendwo vor ihnen sicher, sie konnten im Akaziengrund, unserer Klubgaststätte, auf einen warten oder hinter der nächsten Straßenecke, oder in der Disco, aber der neuralgische Punkt war der Fußgängertunnel vom S-Bahnhof Springpfuhl zum Helene-Weigel-Platz, wo ich wohnte. Oben verlief die Märkische Allee, eine der Hauptachsen von Marzahn, und wer mit der S-Bahn aus der Stadt kam, dem blieb nur der Weg durch die Unterführung. Bei der größten Umsicht konnte einem dann blühen, am anderen Ende von einer Meute Glatzköpfe in Empfang genommen zu werden, denn der Ausgang lag unsichtbar hinter einem Tunnelknick, und ich bin oft um mein Leben gerannt, zwanzig, dreißig Mann hinter mir her, ihr gellendes Wutgeheul im Ohr.
Ich machte nicht mit, das reichte schon. Und was meine Todesangst angeht– die war berechtigt. Leute wurden gefesselt auf die Schienen gelegt, Leute wurden bei voller Fahrt aus der S-Bahn geworfen.
Eines Tages saß ich mit Marek, einem meiner besten Freunde, und zwei anderen auf einer Bank gleich neben Mareks Platte im Grünen. Hundert Meter weiter, gut einsehbar, war der Akaziengrund, den die Nazis zum Treffpunkt erkoren hatten. An diesem Abend war Disco angesagt, die Glatzen strömten zusammen, und wir saßen da und dachten an nichts Böses. Vier Mann, das müsste genügen, und Verkriechen war nicht unsere Sache.
Da kam Mareks Bruder vorbei.
» Jungs«, sagte er, » verzieht euch lieber. Es soll heute noch knallen.«
» Wieso?«
» Es haben sich ein paar Türken angesagt, die 36 Boys aus Kreuzberg. Das wird Randale geben.«
Na gut, wir erst mal sitzen geblieben und eine geraucht. Aber keine zehn Minuten später kamen sie schon vomAkaziengrund her angelaufen, fünf Mann, darunter ein gewisser Andersen, der selbst ernannte
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