So fühlt sich Leben an (German Edition)
Hip-Hop-Traum zu erfüllen, und fortan war sein Laden mein Mekka. Bei ihm habe ich sogar bezahlt.
Ich hatte nun eine hübsche Farbpalette zusammen. Dair bot mir an, mit ihm zusammen sprühen zu gehen. Ich wollte aber erst mal heimlich üben und bin mit meinem prall gefüllten Rucksack rausgefahren, möglichst weit weg, in ein Gewerbegebiet hinter Ahrensfelde. Dort gab es eine Firma, die Bauschutt verarbeitete, die hatte gemauerte Speicher, in denen der Schutt lagerte, und da, an diesen Speicherwänden, sind meine ersten Bilder entstanden. Ich mochte gleich den Geruch der Farben. Wie es jedem Frischling ergeht, habe ich an diesem Tag massenhaft Nasen produziert, die im Sprüherjargon drips heißen und das unfehlbare Kennzeichen des stümperhaften Amateurs sind, aber egal– Razia war geboren und lauerte darauf, ans Licht der Öffentlichkeit zu treten.
Als Sprüher willst du ja groß rauskommen. Ich zumindest wollte das. Ich war nie der Sprüher, der durch die Gegend zieht und blind drauflostaggt. Ich habe nie S- und U-Bahnen bemalt. Ich habe nie gesagt: Die nutzen ihre Züge doch auch für ihre Werbung. Wenn ich die Fenster zukleistere, habe ich gedacht, dann kann man nicht mehr rausgucken, da halte ich nichts von. Ich habe mir immer Flächen ausgesucht, große, monotone Flächen, die farbig schöner aussehen würden. Und ich habe anderer Leute Eigentum nicht verschmutzt, ich habe es veredelt. Graffiti waren für mich eine Möglichkeit, meine Welt zu verschönern. Sie waren für mich Kunst.
Ich war Sprüher durch und durch. Das war mein Lebensinhalt. Oft habe ich nur drei Stunden geschlafen und den Rest der Nacht an der Wand verbracht, mit oder ohne Taschenlampe, eine Thermoskanne von Muttern mit heißem Tee dabei, was zu futtern fürs Picknick zwischendurch und eine Rolle Klopapier für alle Fälle, weil ich vorm Sprühen immer so aufgeregt war, dass ich als Erstes musste. Wenn ich dann anfing, habe ich mich wie ein Maler vor einer weißen Leinwand gefühlt. Und während ich arbeitete, habe ich mir gewünscht, dass sich die Leute in meinem Bild verlieren. Dass einer den anderen wenigstens anstößt, wenn sie in der S-Bahn daran vorbeifahren, und manchmal bin ich am nächsten Morgen allein deshalb in die S-Bahn gestiegen, um zu gucken, ob sich in ihren Gesichtern so etwas wie Freude oder Überraschung spiegelt. Weil ich mich unter mein eigenes Publikum mischen und wissen und miterleben wollte, wie seine Reaktionen ausfallen. Das waren ja oft riesige, farbenprächtige Bilder, und gar nicht selten hieß es neben mir: Kiek mal da, ist ja toll… Das war für mich das Größte.
Ich hatte mir allerdings auch ein extrem schlaues System einfallen lassen, um Publikum und Kunst zusammenzuführen. Ich hatte nämlich die ganze Strecke der S7 von Ahrensfelde bis Alexanderplatz für mich vereinnahmt. Ich habe am S-Bahnhof Ahrensfelde angefangen und mich immer weiter stadteinwärts vorgearbeitet, habe an jedem Bahnhof meine Bilder gemalt und zwischen den Bahnhöfen, wo sich zum Beispiel eine Brücke anbot, ebenfalls, und habe es auf diese Art im Lauf eines Jahres bis zum Alexanderplatz geschafft. Und als ich mein Ziel erreicht hatte, habe ich einfach kehrtgemacht und denselben Weg mit derselben Gründlichkeit stadtauswärts bemalt, also auf der anderen Seite, bis ich eines Tages wieder an meinem Ausgangspunkt Ahrensfelde ankam und die Strecke abhaken konnte. Mit anderen Worten: Die S7 war komplett meine Linie, und innerhalb von knapp zwei Jahren hatte ich nicht nur einen ziemlichen Ruf in der Szene, ich hatte auch Tag für Tag ein Publikum, von dem andere Maler nur träumen können. Die Leute kamen ja zwangsläufig an meinen Bildern vorbei, wenn sie zur Arbeit oder nach Hause fuhren, ich musste sie nur beobachten. Mir kamen sie alle wie Tote vor. Schlecht gelaunt starrten sie mit mürrischen Gesichtern aus den Fenstern in das Einheitsgrau von Marzahn, von Friedrichsfelde und Friedrichshain. Nichts los da draußen. Sobald aber ein Werk von mir an ihnen vorüberzog, tat sich in manchen dieser Gesichter was, da konnte es passieren, dass einer den anderen tatsächlich anstieß. Und ich saß dabei, hatte die Finger noch voller Farbe und war glücklich.
Mein Vater hat das nie verstanden. » Schmierereien«, hat er gesagt, als er merkte, dass ich in diesem Hip-Hop-Ding voll aufging, » Subkultur. Gesellschaftsfeindliche, subversive Untergrundarbeit.« Er war sowieso im Wendestress, jetzt musste er zu alledem noch mit einem
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