So fühlt sich Leben an (German Edition)
sich mein Interessengebiet auf eine andere Clique verlagerte, von der jetzt die Rede sein soll.
Erinnern wir uns: Westberlin nach der Maueröffnung– für einen wie mich, also einen aus Marzahn, die totale Reizüberflutung. Reklame, farbige Hausfassaden, Lichter– des Nachts alles erleuchtet, vor dir, hinter dir, neben dir, über dir Geflacker, und am Tag Graffiti, so weit das Auge reichte, alles bunt, mal mehr, mal weniger gelungen, aber immer farbenfroh, und der ganze Antifaschistische Schutzwall ein einziges Kunstwerk. Bei uns im Osten gab es keine Graffiti. Da gab es nicht mal Sprühdosen. Da gab es eigentlich überhaupt keine Farbe, und als Marzahner Junge hatten sich meine Augen längst mit einem Grauton abgefunden, der keine Abstufungen kannte. Nachdem der erste Konsum- und Lichterrausch verflogen war, konzentrierte ich mich auf das, was mir an diesem Westberlin weit eindrucksvoller und kostbarer als alle Minnesota-Vikings-Jacken und alle Rap-Platten erschien: eben die Graffiti.
Noch in der Schulzeit fing ich an, meine Graffiti-Fotos auszuwerten. Nächtelang saß ich an meinem Schreibtisch, legte Butterbrotpapier über meine Aufnahmen, pauste die Graffiti ab, schnitt Buchstaben aus, stellte mir meine ersten styles zusammen, experimentierte mit verschiedenen Namen und malte. Die ersten Skizzenbücher entstanden, jede Seite mit kräftigen, leuchtenden Farben bedeckt, jede von zuckenden, tanzenden oder zusammengeballten Formen überwuchert. Noch aber hatte ich keinen überzeugenden Künstlernamen, und da ein Graffito nun mal nichts anderes ist als die mehr oder weniger abstrahierte Buchstabenfolge dieses Namens, war nicht daran zu denken, an die Wand zu gehen. Da kam mir der Zufall zu Hilfe.
Eines Morgens fuhr ich mit der S-Bahn nach Westberlin zu meiner Lehrstelle– ich komme später darauf–, und mir gegenüber sitzt jemand, der hat die BILD -Zeitung aufgeschlagen, liest stur in sich hinein, und mein Blick fällt auf die Schlagzeile der ersten Seite. » Razzia in (irgendeinem Café)« steht da. Ich gucke mir die Buchstaben an, lasse sie rein optisch auf mich wirken, und wie eine Erleuchtung stellt sich bei mir die Erkenntnis ein: geile Buchstaben. Geile Kombination. Das R ist geil, das A ist geil, das Z in der Mitte erst recht, das I passt auch, und das A verliert durch die Wiederholung keineswegs an Zauber, also: zwei rechts, zwei links, das Ganze von diesem rasanten Z zusammengehalten– der Kracher! Das zweite Z habe ich aus Gründen der Symmetrie gleich fallen gelassen, und kaum war ich abends zu Hause, habe ich mich hingesetzt und gemalt: R-A-Z-I-A . Erst als simple style, also gut lesbar in Blockbuchstaben, dann als wild style, wo du kaum mehr was erkennst, wo eigentlich nur noch der Kenner Buchstaben sieht, dann in allen Abarten und Mischformen und immer mit dem Hintergedanken: Wenn du dir das jetzt groß an einer Wand vorstellst– ist es eindeutig? Kann jeder es entziffern? Und siehe da, Razia sah in allen Varianten hervorragend aus. Mit anderen Worten: Zu Beginn des Jahres1992 wurde es ernst.
Nun war es so, dass ich schon einen Sprüher kannte. Unter den Lehrlingen, die sich zweimal die Woche auf dem Lehrbauhof in Marienfelde trafen, befand sich nämlich ein Westberliner namens Dair (sein wahrer Name ist mir verborgen geblieben), der schon an den Styles auf seinem Rucksack als Sprüher zu erkennen war. Eines Tages vertraute ich ihm meine Ambitionen an, und als er sagte: » Bring doch mal mit, was du so an Entwürfen hast«, wähnte ich mich schon fast auf dem Sprüher-Olymp und zitterte vor Aufregung, als ich abends meine Skizzenbücher einpackte. Dabei ging es vorerst um ganz banale Sachen.
Dair lernte mich an. Erste Lektion: im Baumarkt Dosen klauen. Dosen waren teuer, also immer rein damit in den Armeerucksack, und da es damals noch nicht überall Überwachungskameras gab, war der Rucksack schnell voll. Zweite Lektion: nach Spandau rausfahren zu Ben Sami Mansour und die Ausrüstung vervollkommnen. Ben, ein Araber, betrieb einen der wenigen Hip-Hop-Läden Berlins, und ich muss sagen: Es war das Paradies. Der Laden lag in einer Laubenkolonie gegenüber einer Autoverwertungsfirma und war von vorn bis hinten zusammengeschustert, aber in dieser verwegenen Bude bekamst du alles: Sprüherklamotten, Sprüher-Magazine, Sprüher-Schuhe, die exzellenten Sparvar-Dosen und die dazugehörigen Caps, mit denen du den Strahl dosieren kannst, fett oder fein– kurzum: Ben war in der Lage, jeden
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