So fühlt sich Leben an (German Edition)
streichelte ihm die Borsten, und wer die Straßenbesen mit den roten Borsten kennt, der kann sich meinen Gesprächspartner vorstellen. Der Absturz kam auf der Heimfahrt. Ich schaffte es gerade noch bis zum Bahnhof Friedrichstraße, wo ich einen Zwischenstopp einlegen musste und auf den Treppenstufen einschlief. Ich beschloss, nie wieder Drogen zu nehmen.
Gut, der Rest im Zeitraffer: nachts sprühen, tagsüber auf dem Bau schuften, am Betonmischer stehen, Platten und Zementsäcke schleppen und so weiter. Drei Jahre lang. Dann kam die Abschlussprüfung. Ich war vor der Zeit fertig. Mein Meister auf dem Lehrbauhof begutachtete mein Werkstück, einen Fenstersims, und sagte: » Junge, du kannst deinen Arbeitsplatz aufräumen, du hast es geschafft, du bist durch.« Mit anderen Worten: Mein Sims war nicht der allerbeste, aber scheitern konnte man damit nicht. Eigentlich. Die Jury kam und erklärte, ich sei durchgefallen. Mein Lehrmeister hat nur den Kopf geschüttelt. Und, ganz ehrlich, für mich ist eine Welt zusammengebrochen. Ich hatte alles gegeben, war immer pünktlich gewesen, hatte mir nie was zuschulden kommen lassen, und das war der Lohn. Da habe ich den Mittelfinger rausgeholt und gesagt: » Fickt euch, ihr Arschlöcher.« Im Endeffekt hatte ich den Eindruck, dass einfach alle Ostler abserviert wurden.
Da bin ich aufgewacht. Kapitalismus! Aufstehen! Durchgefallen! Und hör gut zu: Ein Angestelltenverhältnis kommt für mich nicht mehr infrage. Keine neue Ausbildung, keine neue Lehre, kein ordentliches Berufsleben! Lieber gehe ich für acht Mark Pizza ausfahren. Lieber arbeite ich an der Tür. Lieber verdiene ich mir meine Kohle außerhalb der Legalität. Ich hätte die Prüfung wiederholen können, verzichtete aber darauf. Von jetzt an würde ich mir nur noch von einem einzigen Menschen was sagen lassen, und dieser Mensch war Hagen Stoll. Der Sprüher.
Wenn mich jemand fragte, habe ich auch während meiner Lehrzeit immer geantwortet: Ich bin Sprüher. Nie wäre mir eingefallen, mich als Stuckateurlehrling zu bezeichnen. Warum? Im Nachhinein würde ich sagen: Weil du am meisten du selbst in der Begeisterung bist. Weil Leben Erfülltsein bedeutet. Du bist das, was dich ganz und gar erfüllt, und wenn dich nichts erfüllt, tja, wer oder was bist du dann? Insofern war die Lehre für mich die Leere, und die Leere kommt bei mir gleich vor dem Tod. Der Hip-Hop dagegen war Leben. Leuten wie mir hatte der Hip-Hop die größte Erfüllung zu bieten, in diesen chaotischen Jahren zumindest. Er war mein Auffangbecken, ohne Frage, aber er war mehr, er passte zu mir, er traf mein Lebensgefühl, er war mein Element. Fische sind fürs Wasser geschaffen, Vögel sind für die Luft geschaffen. Ich war für den Hip-Hop geschaffen.
Worum ging es denn? Um skills und um fame. Also erstens: Was kannst du? Was zeichnet dich aus? Zeig es, mach uns sprachlos, versetz uns in Erstaunen. Aha, super, hätten wir dir nicht zugetraut, Respekt, Respekt! Oder womöglich: Wahnsinn! Und zweitens: Ruhm. Sich einen Namen machen, in der Szene und am besten auch darüber hinaus. Anerkannt, geachtet, heimlich bewundert werden. Gut sein und dafür sorgen, dass es so viele wie möglich mitkriegen. Und genau das war’s. Denn den Einzelgänger Hagen Stoll hat’s immer in den Mittelpunkt gezogen. Auf die Bühne. Der brauchte ein Publikum. Und Breakdance kam nicht infrage. Das habe ich mir gern angeschaut, war aber nicht sportlich genug dafür. Als DJ Platten auflegen wiederum war mir zu dürftig. Rappen fand ich einerseits immer schon geil, traute mich andererseits aber nicht ran. Blieb Sprühen. Also habe ich gesprüht. Und zwar so lange, bis jeder wusste, wer dieser Razia ist, nämlich der Typ, der die bunten Bilder an jedem Bahnhof zwischen Ahrensfelde und Alexanderplatz malt. Und damit war der Zweck erfüllt und ich auf dem Hip-Hop-Olymp: Die Leute kriegen mich mit, ich bin da, ich lebe, ich hinterlasse was, ich verändere meine Welt– großartig!
Und als Programm mehr als genug. Meine Woche war durchgeplant. Zwischendurch wurde Zeit für Eileen erübrigt, doch die Faustregel hieß: Sprühen geht vor. Eine Woche ohne Sprühen hat’s für mich nicht gegeben. Mittwochs traf ich mich mit den Kollegen aus Westberlin. Donnerstags kamen meine eigenen Jungs zur Lagebesprechung. Vorher mussten Entwürfe gemacht und Farben besorgt werden, Dosen oder weiße Wandfarbe zum Grundieren. Manchmal habe ich dann eine Nacht lang nichts anderes gemacht, als
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