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So fühlt sich Leben an (German Edition)

So fühlt sich Leben an (German Edition)

Titel: So fühlt sich Leben an (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagen Stoll
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nicht viele Ausländer. Da waren die Nazis von Ahrensfelde besser dran. Aber schließlich mussten auch die wenigen Vietnamesen und Afrikaner von Marzahn mal einkaufen gehen, und dann blühten unsere Skins auf, dann spielten sich die ekelhaftesten Szenen ab.
    Ich kann nur sagen: Wenn du miterlebst, wie eine Horde besoffener Halbstarker eine Familie angreift, Kinder schlägt und Eltern vor den Augen ihrer Kinder verprügelt, dann wird dir übel. Und doppelt übel, weil du machtlos bist– natürlich gehst du da dazwischen, und dann machen sie dich genauso platt. Und die Fortsetzung ist auch nicht lustiger, wenn Kinder und Erwachsene wimmernd am Boden liegen und keiner kommt. Kein Krankenwagen, keine Polizei. Kein Martinshorn wie im Film. Und die Täter trotten seelenruhig von dannen, die haben nichts zu befürchten. Welcher Bulle traute sich noch nach Marzahn? Welcher Sanitäter wollte riskieren, dass ihm sein Fahrzeug zerlegt wird, während er, nur mal angenommen, einen Kranken aus der siebzehnten Etage holt?
    Die Skins wurden immer brutaler, aber noch begnügten sie sich mit Körperverletzung, schritten nicht zum Totschlag. Eines Tages– ich wohnte noch am Murtzaner Ring– nahm ich den üblichen Weg durch den Akaziengrund über den Helene-Weigel-Platz zum Bahnhof. Es war um die Mittagszeit. Ich nähere mich auf meinem Fahrrad dem Wäldchen und sehe, noch vor den ersten Bäumen, einen Menschen neben dem Weg liegen. Auf dem Bauch, Gesicht im Dreck. Ich fahre vorbei, mache kehrt und steige ab.
    Zwei, drei Kinder stehen um den leblosen Körper herum und stoßen ihn mit Stöcken an. Es ist ein Mann, und er ist tot. Sein Kopf liegt in einer Lache aus geronnenem Blut, dunkelrot, fast bräunlich. Fliegen schwirren über der Blutkruste, und die Kinder stochern an ihm herum. Nach einigen Versuchen schaffen sie es, seinen Kopf auf die Seite zu drehen, und jetzt sieht man, dass es ein Vietnamese ist.
    Da kam jede Hilfe zu spät.
    Auf dem Rückweg Stunden später nahm ich denselben Weg. Aus Neugier. Es zog mich dahin. Ich wollte wissen, was aus dem armen Kerl geworden war. Er lag immer noch da. Ich war verstört. Wie konnte es sein, dass niemand ihn wegschaffte? Wo waren wir denn hier? Wieso rief keiner die Polizei? Ich will nicht lügen, aber er lag bestimmt eine Woche lang da. Jeden Tag aufs Neue bin ich an ihm vorbeigefahren, und jedes Mal bot er einen grausigeren Anblick. Dann war er weg, aber die Blutlache erinnerte noch an ihn. Getrocknet und halb eingesickert, markierte sie den Eingang zum Akaziengrund, dem Treffpunkt der Neonazis.
    Jetzt starben die Leute bei uns fürs Anderssein. Ich war auch anders. Und ich wusste, dass sie in Ermangelung von Ausländern mit mir Vorlieb nehmen würden. Ich empfand nur noch Hass auf diese Leute. Ich zog meine Sprüherkumpel zurate. Gut, im Viertel konnte ich meine Wege mit dem Fahrrad machen, damit war ich schneller als sie, aber wenn ich in die Innenstadt wollte, musste ich die S-Bahn nehmen. Meine Kumpel waren sich schnell einig: » Du musst dir ’n Eisen besorgen.« Eine Waffe. Aber welche? Ein Rambo-Messer? Eine Machete? Eine Gaspistole? » Hol dir ’ne Gaspistole und schraub sie auf«, sagten sie und gaben mir einen Tipp: ein Waffengeschäft in Lichtenberg.
    Ich fuhr hin und kam mit einer richtig großen Knarre zurück. 9mm, Automatik. Zu Hause habe ich sie im Hobbyraum meines Vaters in den Schraubstock geklemmt und aufgebohrt; das machten viele, damit das Gas beim Austritt nicht streut. Von dem Tag an bin ich nur noch mit Waffe durch die Gegend gelaufen. Ich trug sie hinten im Gürtel, und ich muss zugeben, dass sie mich nicht nur beruhigte. Das auch. Aber sie versetzte mich außerdem in ein Hochgefühl. Völlig unangebracht, stimmt, aber die Knarre war Macht, war Überlegenheit, und ich habe mich vor den Spiegel gestellt und meine Waffe gezogen wie ein Filmheld seinen Colt– » Ey, du Wichser, was hast du gegen Negermusik? Pampampam… Friss das!« Jetzt gehörte ich jedenfalls zu denjenigen, die sich nichts mehr erzählen zu lassen brauchten. Gleichzeitig hatte ich Angst davor, sie zum ersten Mal rauszuholen. Dass ich früher oder später dazu gezwungen sein würde, ahnte ich.
    Und der Augenblick kam.
    Er kam, als ich eines Abends mit ein paar Sprüherkumpeln von CAF in der S-Bahn aus der Stadt zurückkehrte. Hightower war dabei, Boris, Janek und Lote. Zusammen sechs Mann. Wir wollten zu Hightower, der seine Bude in der Nähe des Bahnhofs Mehrower Allee hatte. In einem

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