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So fühlt sich Leben an (German Edition)

So fühlt sich Leben an (German Edition)

Titel: So fühlt sich Leben an (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagen Stoll
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Hause.
    Mein Opa war längst tot. Mit dem hätte ich reden können. Meine Eltern hatten keine Ahnung, was da draußen abging, und ich ließ sie im Unklaren. Eileen habe ich nichts erzählt. Sie hat’s mitbekommen, weil die Geschichte im Viertel die Runde machte, ja, aber von mir kein Wort. Das war ein Jungs-Ding. Mit Mädchen war Knutschen angesagt. Also habe ich das meiste für mich behalten.
    Natürlich gab’s auch Leute, die uns gefeiert haben. Für die Linken waren wir Helden.
    Es gab in Marzahn eine linke Gang, ziemlich radikal. Sie nannte sich ABDE -Boys und jagte Nazis. Eines Tages sprachen sie uns an und fragten, ob wir bei ihnen mitmachen wollten. Nee, haben wir gesagt, wir sind Sprüher, Politik interessiert uns nicht. Und dann haben wir doch mitgemacht. Aushilfsweise. Bei der Massenschlägerei auf dem Helene-Weigel-Platz.
    Es war nämlich so, dass wir– und damit meine ich uns Sprüher aus Marzahn– durch die ABDE -Boys von einem großen Nazi-Treffen am kommenden Wochenende auf dem Helene-Weigel-Platz erfuhren. Das war geraume Zeit nach dem S-Bahn-Vorfall, als ich schon meine eigene Wohnung hatte. Und Nazi-Treffen hieß: Umzug, Aufmarsch, Kundgebung mit Fackeln, Wimpeln, Flaggen und Ansprachen, wie man es aus den Wochenschauen und Propagandafilmen der Dreißigerjahre kennt. Nur dass das ganze Dekomaterial bei unseren Nazis an Besenstielen hing und nicht an vergoldeten Zeptern. Achthundert bis tausend Glatzen würden erwartet, wollten die ABDE -Boys erfahren haben. Wenn das stimmte, würden sie bis zum Schwimmbad stehen, denn der Helene-Weigel-Platz ist nicht groß. Der ist im Grunde eine breite Einkaufsstraße mit kleinen Läden und Cafés, die zum Schwimmbad und Rathaus hin noch breiter wird und sich so den Namen Platz verdient. Das eine Ende mündet in den Fußgängertunnel, der vom S-Bahnhof kommend die Märkische Allee unterquert, am anderen Ende stößt der Platz linkerhand an den Springpfuhltümpel und an den Park mit dem Akaziengrund. Es war also mit einem enormen Gedränge auf unserem Helene-Weigel-Platz zu rechnen. So, und jetzt kommt’s. Die ABDE -Boys planten nämlich in diesem Zusammenhang eine Gegenaktion.
    » Wir brauchen jeden«, sagten sie.
    » Was habt ihr denn da vor?«, wollte ich wissen.
    » Na, wir mischen die uff.«
    » Ey«, sage ich, » seid ihr irre? Achthundert Mann? Tausend Mann?«
    Ich dachte nach. Wer würde kommen? Die 137er hatten zugesagt. Das war eine Sprühercrew aus Weißensee, die hundertsiebenunddreißig Mitglieder hatte, nie mehr, nie weniger. Wo immer die Zahl137 an einer Wand auftauchte, steckten sie dahinter. Die würde ich gern kennenlernen, habe ich mir gesagt. Wenn die mitmachen, beteilige ich mich.
    Ich stellte mir die Sache vor wie ein Turnier. Als ein Kräftemessen, hart, aber fair. Jetzt würde sich zeigen, wie weit die Macht der Glatzen reichte, ob sie in Marzahn tatsächlich tun und lassen konnten, was sie wollten, oder ob wir stark genug wären, ihrem Unwesen Einhalt zu gebieten. Meine einzige Sorge war: Hoffentlich kommen unsere Jungs alle. Dass die Gegenseite vollzählig vertreten sein würde, war klar, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Aber wie viele würden wir auf die Beine stellen? Na gut, das Projekt sprach sich schnell herum, durch Mundpropaganda und in den Jugendklubs; der Rest war Bangen und Hoffen.
    Das Wochenende kam, und ich weiß noch, wie ich oben aus meinem Fenster guckte und gespannt war, was sich da unten zusammenbrauen würde. Von meiner Wohnung aus konnte ich den Helene-Weigel-Platz ja einsehen. Gegen sechzehn Uhr ließen sich die Ersten blicken, und mit jeder S-Bahn wurden es mehr. Aus aller Herren Bezirke kamen sie und drängten auf den Platz. Das war jetzt die Höhle des Löwen, direkt vor meiner Haustür. Wer immer sich von unseren Leuten irgendwo versammelte, sah nicht das, was ich sah, der hatte keine Ahnung, welche Formen diese Veranstaltung annahm. Vorsichtshalber zählte ich im Kopf mal durch: Die Weißenseer wollen kommen, das sind hundertsiebenundreißig Mann; dann die ABDE -Boys, die bringen es vielleicht auf hundert; die Lords of Doom, eine Sprühergang aus Hellersdorf, die zählen, wenn’s gut geht, fünfzig Jungs; dann unser Trupp, die CAF , an die dreißig Mann. Kommen wir alles in allem auf etwas über dreihundert, und dann wird’s langsam dünne. Auf einem Haufen konnte unsereins zwar echt ungemütlich aussehen, aber bei achthundert Skins? Oder tausend?
    Nur stellte sich mir plötzlich noch ein

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