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So fühlt sich Leben an (German Edition)

So fühlt sich Leben an (German Edition)

Titel: So fühlt sich Leben an (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagen Stoll
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waren glorreiche Zeiten. Man verabredete sich dort und tauschte sich aus, man arbeitete, ganz konzentriert, jeder für sich, man fachsimpelte hinterher und profitierte voneinander, und das alles mit dem ungewohnten Gefühl: Die Polizei darf ruhig kommen. Ein schönes Kompliment für meine Arbeit war, wenn ein anderer Sprüher kam, auch nicht gerade der schlechteste, mir sein aufgeschlagenes Skizzenbuch hinhielt und sich ein Autogramm in Form eines Styles erbat, inklusive Widmung.
    Gemeinsam haben wir die verrücktesten Geheimoperationen durchgeführt. Wir haben Bilder von zweihundert mal zweihundert Metern produziert– in einer einzigen Nacht; da muss man sich vorher sehr genau überlegen, wie man derart große Buchstaben auf die Fläche bringt, ohne dass die Proportionen verrutschen. Wir haben uns sogar Bergsteigerausrüstung besorgt, uns von einem Hausdach abgeseilt und eine Giebelwand besprüht– und uns am nächsten Morgen in die S-Bahn gesetzt und gewartet. Dann hieß es tatsächlich: » Gibt’s ja nicht! Wie geht ’n das? War doch gestern noch nicht da!« Augenblicke dieser Art, ich sagte es schon, waren für mich unbezahlbar. Unbezahlbar wie alle Augenblicke der Begeisterung und zu überbieten allein durch das Glück, den Tatort anschließend abzulichten.
    Und das war nun wirklich das Größte. Dass man den Tatort begehen und das eigene Werk fotografieren durfte. Fotografieren war nicht strafbar. So haben wir seelenruhig detaillierte Aufnahmen gemacht und die Fotos großer Graffiti hinterher im Album wie Collagen zusammengesetzt. Mit der Zeit wurden es immer mehr, Hunderte von Fotos, und heute finden sich alle meine Graffiti im Internet wieder. Diese Fotos allerdings stammen nicht von mir. Die haben Fans da reingesetzt, Leute, die die Entwicklung von Razia verfolgt haben und vermutlich gar nicht ahnen, dass er mit dem Rapper Joe Rilla und dem Frontmann von Haudegen identisch ist.
    Wobei mir einfällt, dass ich auch als Haudegen noch mal gesprüht habe, 2012, in Los Angeles. Eines Tages lud mich der weltbekannte Fotograf Estevan Oriol ein, ihn zu einem Freund zu begleiten– man wolle in dessen Garten ein bisschen sprühen. » Super, Alter«, sage ich, » nichts wie hin«, schwinge mich auf meine Harley und fahre mit Estevan zu einem riesigen Anwesen. Es gehört einem Mann von Ende vierzig mit Rauschebart. Dieser Mensch geht mit uns zu einem alten Container hinterm Haus, greift sich eine Dose und legt los, und weil ich mich nicht lumpen lassen will, schnappe ich mir ebenfalls eine Dose.
    Was ich in diesem Augenblick nicht wusste: Ich stand mit einer Legende an der Wand. Mit Risk (auch bekannt als Risky), wie Estevan mich aufklärte, nachdem mir die Meisterschaft dieses Typs aufgefallen war. Da wusste ich Bescheid. Risk ist weltbekannt. In den Achtzigerjahren gehörte er zu den ersten Sprühern überhaupt; für die Westküste hatte er etwa die gleiche Bedeutung wie Seen für New York. Und genau das ist für mich Hip-Hop. Mach keine Schau, zeig einfach, was du kannst, und wenn es der Zufall will, » hängt« dein Bild womöglich eines Tages bei Risk im Garten. SF to LA hatte ich ihm auf seinen Container gesprüht, als Erinnerung an meine Reiseroute von San Francisco nach Los Angeles. In aller Bescheidenheit möchte ich hinzufügen, dass auch Risk schwer beeindruckt war, als er mein Bild sah.

10 | Der tote Mann am Straßenrand
    Sprüher wie Some fühlten sich natürlich geschmeichelt, mit einem Mal solche begeisterten Fans wie mich zu haben. Solange die Mauer stand, war die Westberliner Szene geregelt gewesen, und jetzt strömten ihnen Bewunderer aus dem Osten zu. Viele begegneten diesem Osten allerdings mit gemischten Gefühlen. » Marzahn?«, sagten die einen, » was soll ich da? Nichts für mich.« Für die war Marzahn ein Synonym für Mord und Totschlag und ein Marzahner Junge womöglich auch nicht koscher. Aber andere haben vor dir den Hut gezogen, die hielten es für eine beachtliche Leistung, sich als Sprüher gegen die Neonazis von Marzahn zu behaupten. Am Ende jedoch bin ich immer allein nach Hause gefahren und musste mich der Schlägerbanden allein erwehren. Wenn die S-Bahn in den Bahnhof Springpfuhl einfuhr, konnte ich nie wissen, ob sie dort standen und auf mich warteten oder ob ich Glück hatte und diesmal unbehelligt zu meiner Wohnung kam.
    Eigentlich war es ja der Lebenszweck dieser Leute, Ausländer zu jagen. So gesehen mussten sich die Marzahner Glatzen betrogen fühlen, denn bei uns lebten

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