So fühlt sich Leben an (German Edition)
Mauerflächen zu grundieren und mit meinem Namen zu kennzeichnen, damit jeder wusste: Aha, die Wand von Razia. Wenn du einen Namen in der Szene hattest, ging da keiner ran. Das heißt, es kam zwar vor, gab aber Ärger. Natürlich war es auffällig, zu nachtschlafender Zeit mit einem Zweiundzwanzig-Liter-Eimer und einer Rolle durch die Gegend zu laufen, doch viele Wände waren so verschmutzt, dass man grundieren musste, bevor man ordentlich Farbe auftragen konnte. Beim Grundieren großer Flächen unterstützten mich meine Jungs. Die hielten auch die Augen offen.
Hatte ich nur grundiert, hieß es Geduld haben, denn am nächsten Abend wartete wahrscheinlich die SOKO auf dich. Also erst mal stehen lassen und drei, vier Tage später das Überraschungsmoment nutzen. Oft habe ich trotzdem beides in derselben Nacht erledigt: Grundieren und Sprühen. In meinen großen Armeerucksack passten locker zwanzig, fünfundzwanzig Dosen rein. Handschuhe nicht vergessen, im Winter die Thermosflache mit dem heißen Pfefferminztee mitgenommen, ab aufs Fahrrad und los. Zwei Stunden fürs Grundieren, drei fürs Sprühen, das waren mit Pausen sechs. Bis ich im Bett lag, war die Nacht fast rum.
Natürlich war’s finster. An einer S-Bahn-Strecke ist es sogar noch etwas finsterer als anderswo im Stadtgebiet, und ein gutes Graffiti verlangt absolute Präzision, das muss wie gedruckt, wie draufprojiziert aussehen, das muss wie ein Abziehbild oder ein Tattoo auf der Wand sitzen und am besten noch dreidimensional wirken. Aber meine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Ich hatte ein Gespür für die verschiedenen Farben entwickelt, und meist ging es ja um Kontraste: helle Farbe– dunkle Outlines, dunkle Farbe– helle Outlines. Außerdem gab’s Tricks wie die Taschenlampe, um die Übergänge zu überprüfen. Grundsätzlich muss ich sagen: Nachts hat’s mir mehr Spaß gemacht als tagsüber. Weil du nachts viel stärker spürst: schön, aber verboten. Und weil du dich dann auf den nächsten Morgen freust, auf den Moment, wenn die Sonne aufgeht und dein Werk zum ersten Mal in seiner ganzen Pracht erscheint. Das ist großes Kino.
Irgendwann, als ich mit dem Verewigen so weit gekommen war, dass der Alexanderplatz längst hinter mir lag, haben sie auch im Westen gemerkt: Da drüben ist einer, der kann’s, und als ich zum ersten Mal die Writer’s Corner aufsuchte, hieß es: » Razia? Hallo!« Da wussten sie schon Bescheid, da war ich ihnen ein Begriff. Die Writer’s Corner war der Treffpunkt der Westberliner Sprüher im S-Bahnhof Friedrichstraße, da versammelte sich einmal in der Woche die Sprüherprominenz, und ich gehörte dazu. Von da an war’s mit dem Einzelkämpfertum vorbei.
Erinnert sich jemand an CAF ? Children Against Frustration? Das war eine Sprühercrew aus Ostberlin, nicht aus Marzahn, sondern aus Köpenick und Grünau, richtig gute Leute, durch die Hip-Hop-Magazine auch in Westdeutschland bekannt– bei denen durfte ich einsteigen und genoss seither das Privileg, meine Bilder mit Razia CAF signieren zu dürfen, was ähnlich ehrenvoll wie eine Ordensverleihung oder, sagen wir, ein Ritterschlag war.
Erinnert sich jemand an Some? Er war perfekt. Er war mein Idol. Mit bürgerlichem Namen hieß er Daniel, und mit diesem Superhelden freundete ich mich an.
Als ich ihn im S-Bahnhof Friedrichstraße kennenlernte, war er das genaue Gegenteil von dem, was ich mir aufgrund seiner Bilder unter ihm vorgestellt hatte, nämlich lang und schlaksig, Haare bis zum Arsch, immer zum Zopf geflochten und immer von einem Schwarm Jungs umgeben, die ihm nicht unähnlich sahen. Allen gemeinsam war, dass sie frei von der herablassenden Attitüde anderer Jugendlicher waren– auf mich wirkten sie ernsthaft, ganz ihrer Kunst ergeben und gleichzeitig völlig entspannt. Das war selten. Von den Typen, denen man sonst zum Beispiel in der Diskothek begegnete, war jeder damit beschäftigt, sich über irgendein Gehabe, irgendein Outfit, irgendeine Masche zu profilieren. Die Jungs von der Writer’s Corner hatten das nicht nötig. Auch sie hatten ihre Macken, aber es waren sympathische Macken, und was zählte, waren die Entwürfe in ihren Skizzenbüchern und ihre Bilder an der Wand.
Ich habe viel von Daniel gelernt. Im Gespräch genauso wie durch unsere Gemeinschaftsaktionen an den diversen walls of fame von Berlin, also jenen Wänden, die vom Eigentümer freigegeben worden waren und an denen jeder so viel sprühen durfte, wie er wollte, und das legal. Es
Weitere Kostenlose Bücher