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So fühlt sich Leben an (German Edition)

So fühlt sich Leben an (German Edition)

Titel: So fühlt sich Leben an (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagen Stoll
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dieser alten S-Bahn-Waggons mit der Innenverkleidung aus Holz fuhren wir in den Bahnhof Springpfuhl ein– und der ganze Scheiß-Bahnsteig war voller Glatzen. Ich rede nicht von dreißig, ich rede von ungefähr zweihundertfünfzig. Uns traf der Schlag. Also sechs gegen zweihundertfünfzig.
    Der Zug fuhr ein, und wir schwebten gut sichtbar in unserem hell erleuchteten Waggon an ihnen vorbei. Unsere Blicke begegneten sich, und damit war klar: Entweder sie werfen uns aus der fahrenden Bahn, oder sie stampfen uns an Ort und Stelle ein. Und noch bevor der Zug zum Stehen kam, schrie Hightower: » An die Türen!« Wir nannten ihn nicht umsonst Hightower. Er war zwei Meter groß, hatte Riesenpranken und war bewaffnet. Was in diesen Tagen nichts Besonderes war. Hightower übernahm also das Kommando. » Ran an die Türen! Ran an die Türen!« Je zwei von uns sprangen an die drei Türen, stemmten sich mit aller Kraft gegen die Griffe und drückten, drückten, drückten, während von außen unter Sieg-Heil-Gebrüll gezogen wurde. Hightower und ich übernahmen eine Tür. In meinem Kopf spulte sich der Rocky-Balboa-Soundtrack ab, »Eye of the Tiger«; komischerweise beflügelte mich das in heiklen Situationen zu Höchstleistungen. » Dreckschweine! Pisszecken!« Wir hielten mit schweißnassen Händen dagegen, und der Zug stand und stand. Wann fährt er denn los? Wann fährt er endlich los? Oder wartet der absichtlich so lang? Wenn von außen drei Mann auf jeder Seite ziehen und du kämpfst drinnen allein, ist es eine Frage der Zeit.
    Die Jungs an den anderen beiden Türen hielten gut durch, doch bei uns schoben sich die Türen langsam auseinander. Zentimeter um Zentimeter. Es reichte ja, wenn sie eine Tür aufbekamen. Da brüllte Hightower: » Wir müssen schießen!«
    Er zählte bis drei. Wir sprangen zurück. Die Tür ging auf. Und wir lagen drinnen auf dem Boden und schossen. Ich mit der Gaspistole, Hightower mit einem Trommelrevolver, der mit Pfeilen bestückt war, ein furchteinflößendes Teil. Wir feuerten wahllos in die hereindrängende Masse. Ich zog mir das T-Shirt halb übers Gesicht, zum Schutz vor dem Gas, und sah Pfeile aus Hightowers Revolver in Oberschenkeln stecken. Vier, fünf Schüsse gab ich im Liegen ab, dann sprang ich auf. Mein Vater hatte mir gezeigt, wie man eine Waffe hält. Stütze sie mit der linken Hand ab, hatte er mir geraten. Den Rest des Magazins feuerte ich blind in die Richtung der Typen.
    Totales Durcheinander. Die Getroffenen konnten nicht zurück, weil von hinten andere nachdrängten, und fielen im Eingang übereinander. Die Fahrgäste saßen derweil wie erstarrt auf ihren Plätzen oder waren in Deckung gegangen. Ich sehe noch eine ältere Frau vor mir, die am Boden zwischen den Sitzen kauerte. Es hätte ja auch von draußen geschossen werden können. Und plötzlich ertönte der Klingelton, der das Schließen der Türen ankündigt. Zwei, drei hatten wir mit Tritten auf den Bahnsteig zurückbefördert, dann gingen die Türen mit dem fauchenden Geräusch der Druckluft zu, und der Zug setzte sich in Bewegung.
    Vor den Scheiben schmerzverzerrte Gesichter.
    Im Waggon Tränengasschwaden.
    Und wir keuchend in den Bänken.
    Wir waren richtig im Arsch. Und zugleich halb verrückt vor Erleichterung. Die hätten uns rausgeschmissen. Bei fünfzig Stundenkilometern hast du echt verloren. Und dann der furchtbare Gedanke: Was, wenn an der nächsten Haltestelle wieder welche stehen?
    Erst nach drei Stationen ohne Glatzen legte sich unsere Angst. Und schlug in ein Triumphgefühl um. Ich weiß noch, wie ich gezittert habe, am ganzen Leib, und wie großartig ich mich trotzdem fühlte. Denen hatten wir’s gezeigt. Sechs gegen zweihundertfünfzig, und trotzdem überlegen! Das war schon ein geiles Gefühl, aus diesem Treffen als Sieger hervorgegangen zu sein.
    Auf dem Weg zu Hightowers Bude dämmerte uns, dass wir nach dieser Aktion erst recht im Fadenkreuz standen. Das würde sich rumsprechen. Die Namen Razia und Hightower würden unter den Glatzen die Runde machen. Für sie Grund genug zu sagen: Jetzt erst recht. Die holen wir uns. Ich war froher denn je, eine Waffe zu haben. Mit dem Bild von dem erschlagenen Vietnamesen im Akaziengrund vor Augen weißt du, was die Stunde geschlagen hat.
    Zu Hause, mit mir allein, habe ich mich gefragt: Warum lebst du hier? Warum lebst du nicht woanders, wo man in Ruhe gelassen wird? Nur wusste ich nicht, wohin. Meine Kumpel wohnten in Marzahn. Ich war nirgendwo sonst zu

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