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So fühlt sich Leben an (German Edition)

So fühlt sich Leben an (German Edition)

Titel: So fühlt sich Leben an (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hagen Stoll
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anderes Problem. Der Platz quoll mittlerweile dermaßen von Glatzen über, dass ich mich fragte, wie ich überhaupt mein Haus verlassen sollte. Wir hatten uns in einem Gewerbegebiet jenseits der Märkischen Allee hinterm S-Bahnhof verabredet, aber– wie kam ich jetzt dahin? Nicht, dass ich aus der Tür trete und die Glatzen mich in Empfang nehmen… aber irgendwann musste ich los. Der vereinbarte Zeitpunkt war neunzehn Uhr.
    Es dämmerte bereits. Ich durchs dunkle Treppenhaus geschlichen, kein Licht angemacht und aus der Tür gekiekt. Gleich vor dem Haus waren Parkplätze, die Autos boten Deckung, ich also mit einem Satz über den Bürgersteig zwischen den Autos durch über die Märkische Allee und die S-Bahn-Gleise hinweg ins Gewerbegebiet. Jetzt bist du aber mal gespannt, dachte ich.
    Mir fiel ein Stein vom Herzen. Sie waren in Mengen gekommen. Das sah nach deutlich mehr als die dreihundert Mann aus, auf die ich bei meiner Überschlagsrechnung gekommen war. An die sechshundert, schätzte ich, darunter viele Autonome, alle schwarz gekleidet, alle die Kapuzen übergezogen und schon leicht gereizt. Wenn die jetzt da rübergehen, dachte ich, dann ist Feierabend. Keine Frage, die Nazis waren in der Überzahl, aber die gingen voll und ganz in ihrem Zirkus auf. Einer von uns schaute durchs Fernglas zu ihnen rüber, und nüscht deutete darauf hin, dass sie mit einem Angriff rechneten. Wie üblich waren sie mit ihren Megafonen zugange– » Sieg, Heil! Ausländer raus! Ihr wisst…!«– und fühlten sich wie ebenfalls üblich absolut sicher. Normale Bürger standen auf ihren Balkonen und hörten zu. Und als kaum noch neue Leute von uns eintrafen, hieß es: Okay, jetzt wird’s langsam Zeit, loszugehen.
    Wir teilten uns auf. Eine Hälfte sollte im großen Bogen außenherum gehen, über die Springpfuhlseite kommen und ihnen in den Rücken fallen, die andere Hälfte würde den direkten Weg nehmen. Zangenbewegung nennt man das. Ist in solchen Augenblicken ja nicht falsch, sich über eine Strategie Gedanken zu machen, und gerade unter den Autonomen gab es Leute, die im militärischen Vorgehen erprobt waren. Ich gehörte zu denen, die direkt drauflosgingen. Also noch mal die Waffe gecheckt, den Schlagring aufgezogen und ab über die Gleise und die Märkische Allee Richtung Helene-Weigel-Kampfbahn, erst im Schritt, dann im leichten Lauf und schließlich mit Getöse im Sprint drauf und rein. Und dann Sparta.
    Bis zum Kern auf dem eigentlichen Platz waren es zweihundert Meter. Jetzt hieß es, sich im wahrsten Sinne des Wortes durchzuboxen. Und sofort entstand ein furchtbares Durcheinander, sofort verkeilte sich alles zu einem riesigen Knäuel.
    Die Pistole war für mich nur die allerletzte Instanz. Feige war ich nun auch nicht. Und irgendwie war man sogar in einer festlichen Stimmung, weil dieser Nazi-Zirkus damit ein Ende hatte und weil man alles, was sich an Wut und Hass angestaut hatte, endlich rauslassen konnte. Alle Bilder, die sich in deinem Kopf angesammelt hatten, von Hetzjagden, von Bordsteinbeißen, von Freunden, die auf S-Bahn-Schienen krepiert waren, alles kam hoch, und deshalb waren wir auch so stark. Jeder von uns hatte wahrscheinlich die leise Sorge, dass sie uns in zehn Minuten fertigmachen würden und wir rennen müssten. Aber dann traf der zweite Trupp von der Springpfuhlseite her ein, und die Prügelei wurde richtig wüst.
    In der Dunkelheit war schwer zu erkennen, wen man vor sich hatte. Meist hat man nur auf die Glatze geguckt. Vielleicht noch auf die Schuhe, aha, Doc Martens. Das eine oder andere Mal hatte man einen vor sich, der zu den eigenen Leuten gehörte. Eine halbe Stunde lang bin ich so von einem zum anderen gefetzt. Gerade sitzt du auf einem drauf und schenkst ihm ein, kommt ein anderer von hinten und zieht dir seinen Totschläger über den Nacken. Du drehst dich um, der Kerl springt wieder auf und trommelt auf dir rum, bis einer von deiner Truppe kommt und dich raushaut… kurzum, ein Riesentohuwabohu, Knallen, Klirren, Scheppern, Schreien– und Angst in der Luft.
    Ich war schon sehr erschöpft. Die ersten fünf Minuten machst du eine gute Figur, aber nach einer halben Stunde prügelt man nicht mehr mit demselben Elan. Ich zog mich hinter den Jugendklub zurück und ließ mich bei der Warenanlieferung auf den Boden fallen. Warum gehst du nicht einfach nach Hause?, dachte ich. Wären ja nur ein paar Schritte… Nee, sagte ich mir, durchhalten. Einmal gehst du noch rein. Ich stand wieder auf. Und als

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