So gut wie tot
Telefon klingelte weiter.
Ein kühler Luftzug berührte ihr Gesicht, dennoch schwitzte sie stark. Es war dunkel, sie erkannte nur Schatten in einem geisterhaften orangefarbenen Dunst. Unter ihr knirschte eine Sprungfeder, als sie sich bewegte. Sie saß auf dem Sofa in der Wohnung ihrer Mutter. Mein Gott, wie lange hatte sie geschlafen?
Sie schaute sich um, da sie fürchtete, Ricky sei zurückgekommen. Das Display des Telefons leuchtete. Es war halb sieben. Die Angst überkam sie, als sie die Worte unbekannter Anrufer las.
Sie hielt das Telefon ans Ohr. »Ja?«
»Du hattest genug Zeit zum Nachdenken, oder?«, fragte Ricky.
Wieder diese Panik. Wo zum Teufel war er? Sie musste schnell von hier weg. Saß wie auf einem Präsentierteller in dieser Wohnung. Wusste er, wo sie sich gerade befand? Wartete er irgendwo da draußen?
Sie versuchte sich zu sammeln, bevor sie antwortete. Das Licht würde sie nicht einschalten, sonst könnte sie sich verraten, falls er draußen auf der Lauer lag. Durch die Vorhänge drang genügend Licht von der Straßenbeleuchtung.
»Wie geht es meiner Mutter?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
»Der geht es prima.«
»Ihr Immunsystem ist angegriffen. Wenn es zu kalt wird, könnte sie eine Lungenentzündung bekommen –«
Ricky unterbrach sie. »Wie gesagt, sie rollt sich vor Vergnügen.«
Abby gefiel es nicht, wie er das sagte. »Ich will mit ihr sprechen.«
»Natürlich willst du das. Und ich will das zurück, was du mir gestohlen hast. Also ist die Sache doch ganz einfach. Du bringst es zurück oder sagst mir, wo es ist, und dann kannst du deine Mum mit nach Hause nehmen.«
»Woher soll ich wissen, dass ich dir vertrauen kann?
»Das musst ausgerechnet du sagen!«, höhnte er. »Ich glaube, du weißt überhaupt nicht, wie das Wort geschrieben wird.«
»Passiert ist passiert«, erwiderte sie. »Ich gebe dir zurück, was ich noch habe.«
»Was soll das heißen?« Seine Stimme klang beunruhigt. »Ich will alles. Restlos. Das ist mein Angebot.«
»Es geht aber nicht. Ich kann dir nur das geben, was ich noch habe.«
»Deshalb war es auch nicht in dem Schließfach, was? Du hast es ausgegeben.«
»Nicht alles.«
»Du herzlose Schlampe. Du würdest eher zulassen, dass ich deine Mutter töte, was? Hauptsache, du musst es mir nicht zurückgeben! So wichtig ist dir also das Geld.«
»Ja«, sagte sie, »du hast völlig recht, Ricky.« Mit diesen Worten hängte sie ein.
91
OKTOBER 2007 Abby rannte durch das dunkle Zimmer, wobei sie über einen ledernen Hocker stolperte, und tastete sich ins Badezimmer. Dort erbrach sie sich ins Waschbecken. Ihr Magen tanzte auf und ab, sie war mit den Nerven am Ende.
Sie spülte das Erbrochene weg, wusch sich den Mund und schaltete das Licht ein, atmete tief ein und aus. Bitte nicht noch eine Panikattacke. Sie stand da, die Hände um den Rand des Waschbeckens gekrallt, mit tränenden Augen. Sie befürchtete, Ricky könne jeden Augenblick gewaltsam in die Wohnung eindringen.
Sie zwang sich, daran zu denken, warum sie das alles tat. Lebensqualität für ihre Mutter. Darum ging es doch hauptsächlich. Ohne das Geld würden die letzten Lebensjahre ihrer Mutter unerträglich hart werden. Das durfte sie nie vergessen.
Und sie musste sich an das erinnern, was die Zukunft versprach: Dave, der nur auf die Nachricht wartete, dass sie bereit sei.
Noch eine Transaktion, dann konnte sie ihrer Mutter eine lebenswerte Zukunft ermöglichen. Sie war nur einen Flug entfernt von dem Leben, das sie sich selbst versprochen hatte.
Ricky war ein übler Kerl. Ein Sadist. Ein Schläger.
Doch sie wusste, dass sie Stärke beweisen und es mit ihm aufnehmen musste. Es war die einzige Sprache, die so jemand wie er verstand. Und er war nicht blöd. Er wollte alles zurück. Für ihn hatte es keinen Sinn, eine kranke ältere Frau zu verletzen.
Bitte, lieber Gott.
Abby kehrte ins Wohnzimmer zurück und wartete auf den Anruf. Würde ihn wegdrücken, sobald es klingelte. Dann überkam sie wieder Angst, die Angst, einen schweren Fehler zu begehen. Sie schlich aus der Wohnung in den noch dunkleren Flur und die Feuertreppe hinauf in den ersten Stock.
Wenige Minuten später rief sie aus Doris’ Wohnung eine andere Nummer an. Eine kultivierte Männerstimme meldete sich.
»Könnte ich bitte mit Hugo Hegarty sprechen?«, fragte sie.
»Am Apparat.«
»Verzeihen Sie, dass ich so spät anrufe, Mr Hegarty. Ich möchte meine Briefmarkensammlung verkaufen.«
»Ja?«, fragte er in
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