So gut wie tot
über sämtliche Zeichnungen und zeigte die Fließrichtung des Wassers, die immer bergab bis zum Meer führte.
Roy bemühte sich, ihm zu folgen, war eine halbe Stunde später aber so klug wie zuvor. Anscheinend lief alles darauf hinaus, dass das Gewicht der Frau sie im Schlamm hatte stecken lassen, während alle anderen Gegenstände, die sie bei sich hatte, ins Meer geschwemmt worden waren.
Potting stimmte ihm zu.
Graces Handy klingelte. Er entschuldigte sich und zuckte zusammen, als die durchdringende Stimme des frisch ernannten Detective Superintendent Cassian Pewe, des Schleimscheißers von der Met, mit dem ihn seine Chefin ärgern wollte, an sein Ohr drang.
»Hallo, Roy«, sagte Pewe. Er sah Pewes hübsches, aalglattes Gesicht direkt vor sich. »Alison Vosper hat vorgeschlagen, Sie anzurufen und nachzufragen, ob ich Ihnen zur Hand gehen soll.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Cassian, aber die Leiche ist intakt. Wir haben beide Hände hier.«
Schweigen. Pewe gab einen Laut von sich, als hätte er gegen einen Elektrozaun gepinkelt. Sein Lachen klang unnatürlich. »Sehr witzig, Roy«, meinte er gönnerhaft und fügte nach einer Pause hinzu: »Haben Sie alle Leute, die Sie brauchen?«
Grace spürte, wie sich etwas in ihm anspannte. Er unterdrückte mit Mühe den Impuls, dem Mann zu sagen, er solle seinen Samstag gefälligst woanders verbringen. »Vielen Dank.«
»Gut, das wird Alison freuen. Ich sage ihr Bescheid.«
»Nein, das erledige ich schon selbst«, entgegnete Grace. »Falls ich Ihre Hilfe brauche, werde ich Sie darum ersuchen, doch im Augenblick kommen wir gut zurecht. Außerdem – fangen Sie nicht erst am Montag an?«
»Gewiss, Roy, das stimmt. Alison hatte nur den Eindruck, dass es ganz nützlich sein könnte, wenn ich mich am Wochenende schon ein bisschen einarbeite.«
»Ich weiß ihre Sorge zu schätzen«, stieß Grace hervor und hängte ein. Er kochte vor Wut.
»Detective Superintendent Pewe?«, erkundigte sich Potting mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Sie kennen ihn?«
»Ja. Und andere seines Schlags. Wenn Sie so einem aufgeblasenen Esel wie ihm genügend Seil geben, hängt er sich irgendwann selbst auf. Das funktioniert immer.«
»Haben Sie zufällig ein Seil dabei?«
18
11. SEPTEMBER 2001 Ronnie Wilson hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Er stand wie gebannt da und klammerte sich an den Griff seiner Aktentasche, während sich vor seinen Augen unbegreifliche Szenen abspielten.
Gegenstände fielen vom Himmel auf die umliegenden Straßen. Sie regneten geradezu herunter. Ein nicht enden wollender Schauer aus Mauerwerk, Trennwänden, Schreibtischen, Stühlen, Glas, Bildern, gerahmten Fotos, Sofas, Computerbildschirmen, Tastaturen, Aktenschränken, Papierkörben, Toilettenbrillen, Waschbecken und DIN-A4-Blättern, die aussahen wie riesiges Konfetti. Und Körper. Fallende Körper. Männer und Frauen, gerade noch lebendig, die beim Aufprall explodierten und zerflossen. Er wollte sich abwenden, schreiend davonlaufen, doch eine riesige bleierne Hand drückte ihn nieder und zwang ihn, wie betäubt zuzusehen.
Es war wie der Weltuntergang.
Alle Feuerwehrleute und Polizeibeamte New Yorks schienen in die Zwillingstürme zu laufen. Ein endloser Menschenstrom, der hineindrängte, vorbei an den verwirrten Leuten, die ihnen aus den Gebäuden entgegentaumelten. Sie schienen aus einer anderen Welt zu kommen, waren mit Staub bedeckt, zerzaust, viele Gesichter waren blutverschmiert oder vom Schock verzerrt. Viele hielten ein Handy ans Ohr.
Dann folgte das Erdbeben. Zuerst war es nur ein sanftes Vibrieren, doch es wurde stärker, worauf er den Griff des Rollkoffers fester umklammerte. Dann schienen die Zombies, die aus dem Südturm strömten, zum Leben zu erwachen. Beschleunigten ihre Schritte.
Rannten los.
Ronnie blickte hoch. Stutzte. Eine Sekunde lang glaubte er an einen Irrtum. Das war doch nicht möglich! Eine optische Täuschung. Es musste eine Täuschung sein.
Das gesamte Gebäude stürzte in sich zusammen, brach ein wie ein Kartenhaus, nur –
Ein Streifenwagen in einiger Entfernung vor ihm wurde plötzlich platt gedrückt.
Dann ein Löschfahrzeug.
Eine ungeheure Staubwolke wälzte sich wie ein Sandsturm in der Wüste auf ihn zu. Er hörte Donner. Grollenden Donner, von allen Seiten, wie im Kino.
Eine ganze Menschenmenge verschwand unter Mauerwerk.
Die dunkelgraue Wolke hob sich wie ein Schwarm wütender Insekten in die Luft.
Der Donner war ohrenbetäubend.
Das war doch nicht
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