So gut wie tot
Ronnie sich ziemlich betrunken, wankte irgendwann in eine leere Nische und schlief dort ein.
Als er aufwachte, hatte er grauenhafte Kopfschmerzen und entsetzlichen Durst. Panik durchfuhr ihn.
Sein Koffer. Die Tasche.
Scheiße, Scheiße, Scheiße.
Zu seiner Erleichterung standen sie noch da, wo er sie gelassen hatte, neben seinem Barhocker.
Es war zwei Uhr.
In der Kneipe saßen immer noch dieselben Leute. Dieselben Bilder liefen über den Bildschirm. Er schleppte sich wieder an die Theke und nickte seinem Freund zu.
»Was ist mit dem Vater?«, wollte der eine Bondbösewicht wissen.
»Warum erwähnen sie den nicht?«, fügte der andere Bösewicht hinzu.
»Vater?«, warf der Barkeeper ein.
»Wir hören immer nur der Sohn von Bin Laden. Was ist mit dem Vater?«
Im Fernsehen war jetzt Bürgermeister Giuliani zu sehen, der mit ernster Miene ein Interview gab. Er wirkte ruhig und fürsorglich, ein Mann, der die Situation im Griff hatte.
»Kennen Sie Sam Colt?«, fragte Ronnies neuer bester Freund.
Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Den, der den Revolver erfunden hat.«
»Ach so, den.«
»Wissen Sie, was der gesagt hat?«
»Nein.«
»Sam Colt hat gesagt, jetzt habe ich alle Menschen gleich gemacht!« Der Russe grinste und entblößte dabei wieder seine abscheulichen Zähne. »Okay? Verstanden?«
Ronnie nickte und bestellte Mineralwasser und Kaffee. Er hatte seit dem Frühstück nichts gegessen, verspürte aber auch keinen Appetit.
Giuliani wurde von Bildern taumelnder grauer Gespenster abgelöst. Sie sahen genauso aus wie die, die Ronnie vorhin begegnet waren. Ein Gedicht aus der Schule fiel ihm wieder ein. Es stammte von Rudyard Kipling, einem seiner Lieblingsschriftsteller. Was für ein Mann.
Kipling hatte genau gewusst, wie man Macht und Kontrolle ausübt, ein Imperium aufbaute.
Wenn du den Kopf bewahrst, da rings die Massen
längst kopflos sind …
wenn dich Triumph und Sturz nicht mehr gefährden,
weil beide du als Schwindler kennst, als Schein; …
Im Fernsehen weinte ein Feuerwehrmann. Sein Helm war mit grauem Schnee bedeckt. Er hatte die Helmblende hochgeklappt und die Hände vors Gesicht geschlagen.
Ronnie beugte sich vor und tippte dem Barkeeper auf die Schulter.
»Ja?« »Haben Sie Zimmer? Ich brauche ein Zimmer.«
Sein neuer bester Freund drehte sich zu ihm. »Keine Flüge. Stimmt’s?«
»Stimmt.«
»Woher sind Sie eigentlich?«
Ronnie zögerte. »Kanada. Toronto.«
»Toronto«, wiederholte der Russe. »Kanada. Okay. Gut.« Er schwieg kurz und sagte dann: »Billiges Zimmer?«
Ronnie wurde klar, dass er, selbst wenn er noch Geld bekäme, keine Kreditkarte benutzen konnte. In seiner Brieftasche steckten knapp vierhundert Dollar. Die mussten reichen, bis er die andere Währung in seinem Koffer umtauschen konnte. Vorausgesetzt, er fand jemanden, der den richtigen Preis zahlte und keine Fragen stellte.
»Ja, ein billiges Zimmer. Je billiger, desto besser.«
»Da sind Sie genau richtig. Einzelzimmer. Das brauchen Sie doch.«
»Okay.«
»Meine Cousine hat Zimmer. Sie zahlen bar, sie fragt nicht. Zehn Minuten von hier. Soll ich Ihnen die Adresse geben?«
»Klar. Das läuft ja nach Plan.«
Wieder zeigte der Russe seine Zähne. »Plan? Sie haben Plan? Guten Plan?«
»Carpe diem!«
»Was?«
»Ist nur so ein Ausdruck.«
»Carpe diem?« Der Russe sprach es langsam und holprig aus.
Ronnie grinste und bestellte ihm noch einen Drink.
45
OKTOBER 2007 In der Soko-Zentrale in Sussex House arbeiteten die Teams, die bei Kapitalverbrechen ermittelten. Roy Grace betrat die Abteilung um kurz vor halb sieben, in der Hand einen Becher Kaffee.
Der modern eingerichtete, L-förmige Raum war in drei große Arbeitsbereiche aufgeteilt, die jeweils aus einem geschwungenen hölzernen Schreibtisch bestanden, an dem bis zu acht Personen Platz fanden, und mit großen weißen Tafeln versehen waren, von denen eine der Operation Dingo vorbehalten war. Daran hingen mehrere Nahaufnahmen der unbekannten Frau aus dem Abflusskanal und Fotos der Baustelle. Ein roter Kreis markierte die Lage der Leiche im Kanal.
Bei großen Ermittlungen wurde gewöhnlich der ganze Raum genutzt, doch da der vorliegende Fall nicht so dringend war und somit weniger Personal und Mittel beanspruchte, begnügte sich Graces Team mit einem Arbeitsbereich. Die anderen beiden wurden zurzeit nicht genutzt.
Anders als in den übrigen Büros im Gebäude sah man hier kaum persönliche Dinge an Wänden und auf den Tischen, keine
Weitere Kostenlose Bücher